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Kenan SİNANOĞLU Gözüyle 


     

 



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Roman - DIE BLAUE PERLE . . .
23.03.2011
Kenan SİNANOĞLU
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Kenan SİNANOĞLU

DIE BLAUE PERLE

Roman

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FERIHAN
Ich bin Ferihan, die Frau des osmanischen Geschichtsschreibers Peçevi Ibrahim Efendi. Wir schreiben das Jahr 1617. Ich bin dreiunddreißig Jahre alt. In meinen eigenen Schriften erzähle ich meine Erfahrungen, Gehörtes und Gelesenes. In meine Schriften fließt ein, was ich aus schriftlichen Quellen weiß, auch aus dem, was mein Ibrahim wusste, aber nicht geschrieben hat und mir erzählte und was er oder ich von anderen Menschen hörte. Vor allem nehme ich mir die Freiheit, mich in die Lage anderer Personen hineinzuversetzen. Möge der Allmächtige mein Zeuge sein und mir bei der Verwirklichung meines Vorhabens helfen.

Ich werde viele Menschen in meinem Buch erzählen lassen und hin und wieder auch selbst erzählen. Die Gemeinsamkeit dieser Personen ist, dass sie in der selben Zeit überwiegend in Istanbul, der Hauptstadt der Osmanen gelebt haben oder noch leben. Ich gebe ihnen die Möglichkeit, zu Wort zu kommen. Das Wort ist sehr wichtig. Noch wichtiger ist die Schrift, denn sie kann zum Leben erweckt werden, in dem man sie bei Bedarf wieder liest. Hingegen kann ein an unpassender Stelle ausgesprochenes Wort Schaden anrichten. Es gibt ein Sprichwort, >Verletzung durch das Schwert heilt, Verletzung durch die Zunge heilt nie.< Das sagt schon alles. Vorsicht und Sorgfalt mit der Sprache ist vor allem Selbsterziehung. Denn anderen gegenüber kann ein Mensch nicht sorgfältig genug sein. Aufmerksamkeit, die ein Mensch anderen entgegenbringt, kehrt zu ihm als Hinwendung zurück. Je mehr Hinwendung um so größer die Zuwendung. Aus Zuwendung wächst Zuneigung und Liebe. Daher sollte ein Mensch, der schreibt, besonders sorgfältig sein, weil er mit sich allein ist.

Bei uns wird viel erzählt bei Zusammenkünften. Man spricht über Freuden und Sorgen. Oft sind es Belanglosigkeiten, jedoch zwischendurch werden auch wichtige Dinge mitgeteilt, die wie ein Hilferuf, manchmal sogar versteckte Mahnungen oder Warnungen sind und außerdem werden viele Märchen erzählt, nicht nur den Kindern. Eingestreute Sprichwörter sind wie kleine Anekdoten und Weisheiten sind die Würze.

Mein Ibrahim, der fließend Ungarisch spricht und Übersetzungen macht, etwas Latein, Arabisch und Persisch kann und Deutsch recht gut beherrscht, sagt, es gebe in keiner der ihm bekannten Sprachen so viele Sprichwörter wie in unserer türkischen Sprache.

Redensarten und Sprichwörter fördern das Denken des Menschen und sind in die Rede eingeflochten unterhaltsam. Wer zuviel davon Gebrauch macht, scheint sein Leben nach Schablonen auszurichten. Ich bin sehr sparsam im Gebrauch von Sprichwörtern und ziehe vor, auf meine Art und Weise schwierige Dinge verständlich zu machen. Ich habe von Ibrahim und seinen Büchern die deutsche Sprache gelernt. Inzwischen kann ich Erzählungen lesen und mich mit Ibrahim als Übung unterhalten. Es ist eine schöne Sprache, die mir liegt. Ich kann sie gut aussprechen. Das Lesen längerer Erzählungen hat mich bewogen, das Schreiben in meiner eigenen Sprache zu versuchen. Wenn meine Personen erzählen, bin ich im Geiste bei ihnen.

Kapitel 1
Ibrahim Peçevi Efendi erzählt:

"Derwisch! Elender Hund! Du wagst es auch noch in meine Träume hineinzuplatzen! Als hätte es mir nicht gereicht, deinen Körper von deinem elenden Geist zu befreien! Dafür sind mir alle meine Untertanen immer noch dankbar. Du Bestie!"

"Ich war der Großwesir Derwisch Pascha. Kein Sultan der Osmanen hat seinem Großwesir mit einem Dolch das letzte Geleit gegeben. Du bist der Einzige! Du hast mich umgebracht!"

"Meine Scharfrichter, sämtliche Paschas und ich glaubten, du seiest schon tot. Doch dann regte sich dein elender Körper. Da habe ich ihm mit meinem Dolch die letzte Ruhe erteilt!"

"Dein Dolch schnitt meine Kehle durch. Früher nahm man in der Regel Seidenschnur, um Sippenangehörige und wichtige Staatsleute zu erwürgen. Mir gönnte man nur die einfache Zeltschnur. Deine Scharfrichter konnten offensichtlich keine ganze Arbeit leisten; ausbluten musste ich, geschächtet wie ein Tier."

So etwa muss der Traum des Sultans gewesen sein, denn Mustafa Efendi, der Lehrer und Berater des Sultans seit dessen Kinderzeit, erzählte mir das. Ich habe den Fall "Derwisch Pascha" in meinem Geschichtsbuch "Tarih-i Peçevi" ausführlich erzählt. Ich schrieb wortwörtlich in mein Buch:
"Als der Großwesir Mehmet Pascha starb, ernannte der Sultan den Derwisch Pascha zum Großwesir. Als erste Handlung ließ Derwisch Pascha das Oberhaupt der Offiziere kommen und sagte: 'Ich möchte nicht mit anderen Wesiren verglichen werden. Wer die Bitten und Anliegen armer Menschen aufschiebt und die Bearbeitung über gesetzliche Fristen hinaus verzögert, wer von Leuten Gebühren und ähnliches verlangt, dessen Leben wird mit härtester Strafe enden.'

Die Diwan-Sekretäre kommentierten untereinander Worte und Haltung dieses neuen Großwesirs. 'Was der Großwesir gesagt hat, kann nur ein Selbstgespräch gewesen sein. Es ist erwiesen, ob gut oder böse, Worte, die Leute von sich gegeben haben, die auf den hohen Posten kommen, fallen je nach Geschick und Tat der Titelträger, wieder auf sie selbst zurück.'

Derwisch Pascha, ließ noch am gleichen Tag, an dem er zum Großwesir ernannt wurde, einen längst von seinem Posten abgesetzten Beylerbeyi, welches ein Gebietsverwaltungsoberhaupt ist, einen alten Mann zu sich in den nachmittags tagenden Diwan kommen. Derwisch Pascha sagte zu ihm: 'Es sind Leute zu mir gekommen, die sich über deinen Sohn beschweren.' Der Sohn des Alten war ein Verwalter mit Fahne und Mehter- Musikkapelle in einer entfernten Enklave. Der alte Mann antwortete: 'Ich bin nicht in der Lage, Einfluss auf die Taten meines Sohnes auszuüben.' Derwisch Pascha war erbost und wütete: 'Bis ich seinen Kopf abhacke, kostet es dich deinen." Er befahl, den alten Mann sofort zu köpfen. Als ich von Abdi Kethüda, dem Janitscharen-Hauptmann davon erfuhr und wir entsetzt zur Stätte der Hinrichtung eilten, war die Bluttat bereits vollbracht. Die Leichenträger legten gerade den Kopflosen in einen Sarg, als sie merkten, dass der abgetrennte Kopf blutig in einer Ecke am Boden lag, legten sie ihn dazu und schafften den Leichnam fort. Derwisch Pascha beauftragte Beamte, den Besitz und Güter des Geköpften zu beschlagnahmen. Alle im Diwan waren Zeugen dieses Vorgehens und staunten wie noch nie in ihrem Leben. Ohne den Sultan in der Angelegenheit zu informieren, hatte Derwisch Pascha am ersten Tag seiner Ernennung zum Großwesir selbstherrlich dem Leben eines unschuldigen Menschen das Ende gesetzt. Gott möge dem Toten seine Gnade gewähren.

Stein auf Stein wird zum Berg. Es war erst der Anfang. Sein verstorbener Vorgänger Mehmet Pascha hatte seiner Stellung entsprechend ein kleines Vermögen hinterlassen. Derwisch Pascha ließ die Hinterlassenschaft des Mehmet Pascha einziehen. Trotz der Verfügung unseres Sultans, den Nachlass des Verstorbenen an dessen Waisen zurückzugeben, geschah nichts. Derwisch Pascha bereicherte sich daran."

Aber das Maß war noch nicht voll.

Kapitel 2
Sultan Ahmet

Ich bin Ahmet, Sohn Sultan Mehmet III., im Jahre 1590 in Manisa geboren, wo mein Vater damals als Thronfolger und Gouverneur mit seiner Familie und seiner Gefolgschaft lebte und in Verwaltungs- und Staatsgeschäften ausgebildet wurde.
Als mein Großvater, Sultan Murad III., im Jahre 1595 starb, kamen wir von Manisa nach Istanbul. Mein Vater bestieg als Mehmet III., den Sultansthron. Damals war ich fünf Jahre alt und mein Vater neunundzwanzig. Mein Vater regierte recht und schlecht acht Jahre lang und starb mit siebenunddreißig Jahren.

Ich stieg mit noch nicht vierzehn Jahren als Sultan Ahmet I., auf den Thron. Jetzt zeigt der Kalender das Jahr 1617. Seit 14 Jahren bin ich der Sultan meiner Untertanen, die von Ungarn bis Jemen, von Jemen bis Tunesien, von der Krim bis zum Sudan, überall unter meiner Herrschaft leben. Es steht nicht gut um meine Gesundheit. Als mein Sohn Osman zur Welt kam, war ich fünfzehn Jahre alt und saß seit einem Jahr auf dem Thron. Osman ist ein kräftiger, gut ausgebildeter Junge und ich bin überzeugt, dass er nach meinem Ableben ein guter Sultan wird. Er hat Gefühl und Verstand. Meine Tochter Rukiye hat sich mit 12 Jahren nach längerer Krankheit von dieser Welt verabschiedet. Die ganze Bevölkerung Istanbuls hat um sie getrauert.

Sultan Murad III. und die Sultanin Safiye, die einst Cecilia hieß und einem adligen venezianischen Geschlecht entstammte, sind meine Großeltern. Auf einer Schiffsreise zu ihrem Vater, dem Gouverneur von Korfu, war sie als sechzehnjährige in die Gewalt von nordafrikanischen Korsaren geraten, versklavt und an Osmanen verkauft worden und gelangte auf diese abenteuerliche Weise als Geschenk für den Thronfolger nach Manisa. Sie wurde die erste Frau des Thronfolgers und gebar ihm zwei Töchter und einen Sohn mit Namen Mehmet. Wie bereits gesagt, wurde mein Vater Mehmet nur 37 Jahre alt.

Ich werde nicht einmal so alt wie mein Vater. Ich habe gewagt, das Gesetz des saktionierten Brudermords abzuschaffen, was meiner unschuldigen Brüder Leben gekostet hätte, wenn ich den Schritt nicht getan hätte. Ich führte weniger Kriege als meine Vorgänger und trachtete danach, für das Gemeinwohl zu sorgen und gegenüber der Ayasofya-Moschee am alten Hippodrom, einen neuen Stadtteil zu gestalten, ließ auf dem ausgewählten Areal Eigentümer entschädigen oder umsiedeln, Bauten abreißen und Stiftungsbauten errichten. Die Moschee, jetzt schon mit meinem Namen benannt, steht gegenüber dem Ibrahim -Pascha-Palast. Die Moschee mit all den dazu gehörenden Bauten, die aus Läden, einem Krankenhaus, Schulen, einer Bibliothek, einer Armenküche, Brunnen und einem Badehaus bestehen sind gestiftet und werden alle zusammen "Külliye" genannt. Die Moschee selbst, liegt auf der Achse Ayasofya Moschee-Topkapi-Palast. Es ist die Landzunge, an deren Spitze sich die Wellen des Marmarameers, des Bosporus und des Goldenen Horns vermischen.

Schon zu meinen Lebzeiten nennt das Volk die Moschee und diesen Stadtteil "Sultanahmet". Mein Lehrer Lala Mustafa Efendi hat in seinen Tagebüchern alle Einzelheiten dieser Zeit, in der diese Külliye gebaut wurde, festgefalten.

Die Moschee haben wir vor drei Monaten mit großer Festlichkeit eröffnet. Gäste aus allen Gegenden meines Reiches waren eingeladen. Alle Gäste und die Bevölkerung sind mit Köstlichkeiten bewirtet worden. Das erste Gebet wurde zur Einweihung in der Moschee verrichtet. Die Muslime beteten für meine Genesung. Meine Krankheit macht meinen Untertanen große Sorgen. Sie bedankten sich bei Gott und bei mir, dass ihnen diese wunderschönen Bauten geschenkt wurden. Ich bin sehr glücklich, das es mir vergönnt war, das Bauwerk fertig errichtet zu sehen. Solches Glück wird nicht allen Bauherren zuteil. Für mich ist eine Vision Wirklichkeit geworden. Ich habe die Stadt mit einer neuen Perle geschmückt und ich danke Allah für seine Gnade und allen Beteiligten für ihren großen Einsatz, der zum Gelingen geführt hat.

Seit fünfzig Tagen fesselt mich Krankheit ans Bett.

Kapitel 3
Ibrahim Peçevi Efendi erzählt:

Meine Frau Ferihan ist die Tochter des Tuchhändlers Rauf. Sie erzählt Geschehnisse, die ich als Geschichtsschreiber der Osmanen auslassen muss. Geschichtsbücher sind abhängig von dem, der den Auftrag erteilt und beleuchten daher die Vorkommnisse nicht aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Was über ein Geschichtsbuch hinaus geht oder ein Geschichtsbuch ergänzen würde, kann nur in Liedern, in Gedichten, in Volksmärchen, in Puppen- und Schattenspiel oder als Posse von Gauklern anlässlich von Festlichkeiten unter das Volk gebracht werden. Beschneidung, Kandil-Festlichkeiten, Fastenzeit und Opferfest, Hochzeitfeierlichkeiten in verschiedenen Räumlichkeiten und in Kaffeehäusern, ja sogar in Palästen der Paschas und der Sultane sind Anlässe, zu denen solche Sachen zur Unterhaltung erzählt, vorgetragen oder vorgeführt werden. Jeder kennt die Grenzen dessen, was erlaubt ist, denn bei Verstoß geht es einem möglicherweise an den Kragen. Alle vortragenden Künstler sind in Gilden organisiert. Gilden bilden Künstler aus. Ausgebildete, in der Gilde organisierte Künstler dürfen ihren Beruf ausüben und werden gegen potenzielle oder tatsächliche Repressalien geschützt. Auseinandersetzungen werden durch gewählten Räte geschlichtet. Künstler lernen, Kritik verschlüsselt in Wort, Bild und Spiel darzustellen.

Ferihan schreibt. Sie gibt die Hoffnung nicht auf. Sie lässt sich nicht entmutigen, obwohl keine Druckerei vorhanden ist, die sich ihres Buches annehmen und es drucken könnte. Es ist verboten, in Osmanisch zu drucken. Alles wird von Schönschreibern von Hand vervielfältigt, die in Gilden organisiert sind. Sie sitzen in großen Sälen über ihre Blätter gebeugt und man hört nur das Geräusch der über das Papier gleitenden Federn und wer das hört, dem sträuben sich manchmal die Haare, wenn die Feder unangenehm scharrt. Aber nicht nur deshalb sträuben sich die Haare. Die Furcht um ihr Auskommen lässt alle bangen. Es graut ihnen davor, ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Sie sträuben sich gegen Neuerungen und schieben als Ausrede immer noch die geheiligte arabische Schrift vor. Anstatt dass die Gilden sich überlegen, was zu machen sei, um dem Umbau der Gesellschaft auf die Beine zu helfen, Maschinen bauen zu lassen, Drucktypen zu entwickeln, eine Ausbildung für die Drucktechnik zu schaffen und die Schönschreiber zu Druckern umzuschulen. Die würden schon nicht brotlos bleiben, wenn sie bereit wären, sich in ein neues System einzufügen und sich der Herstellung und der Verbreitung von Lesestoff und auf viele lesefähige Leser einzulassen, wenn gleichzeitig die Schulbildung für die Allgemeinheit verbessert würde. Unser verehrter Sultan Ahmet wird jedenfalls diese Riesenaufgabe nicht mehr bewältigen, er ist zu krank. Die Diwanversammlung hat alle Hebel in Bewegung gesetzt, um die Eröffnung der Moschee vorzuziehen, obwohl die gesamte Stiftung des Sultans mit Medresse, Bücherei, Grundschulen, Krankenhaus, Gasthaus, Basarstrasse mit Geschäften, Bäckerei, Kaffeehaus, Wohnhäuser, Bad, Karawanserail, Küche, Lagerkeller und Brunnen nicht ganz fertig war. Nach Einschätzung der Architekten wäre die ganze Külliye in etwa drei Jahren fertig. Es fehlten hauptsächlich die inneren Einrichtungen der Bauten, sie brauchten eben die Zeit. Die Bauarbeiten an der Moschee hingegen waren sehr schnell vorangekommen und die Moschee mit sechs Minaretten und vielen architektonischen Neuerungen einmalig in der ganzen Welt, begeistert die Menschen durch so viel Schönheit. Alle sind stolz auf dieses Bauwerk und jeder, der daran mitwirken darf, schätzt sich glücklich. Diese Baustelle hat Bewegung in die Wirtschaft gebracht. Handel, Handwerk und Transport florieren. Die Bevölkerung ist sehr dankbar dafür.

Seit meinem zwanzigsten Lebensjahr schreibe ich regelmäßig die Geschehnisse auf. Im Osmanischen Reich ist es üblich, Geschichtsschreiber in wechselnden Staatsdiensten zu beschäftigen. Wir schreiben wichtige Geschehnisse als Zeitzeugen auf und berufen uns auf glaubwürdige Quellen.

Ich wurde im Jahre 1574 in der Stadt Peç geboren, die im ungarischen Teil des Osmanischen Reiches liegt, daher leitet sich mein Name ab. Mein Geschichtsbuch beginnt mit der Regierungszeit Süleyman des Gerechten, den die westlichen Historiker "den Prächtigen" nennen.

Als ich geboren wurde, lebte mein Vater schon seit 32 Jahren in Peç. Meine Mutter war eine Kusine von Sokullu Mehmet Pascha, dem legendären Großwesir der Osmanen. Ich erhielt in der Stadt Peç, die auch Fünfkirchen heißt, eine gute Schulausbildung und lernte neben Osmanisch-Türkisch, Ungarisch, Latein und Deutsch, was mir später als Geschichtsschreiber und Übersetzer im Dienste der Osmanen zugute kam. Ich war vierzehn Jahre alt, als mein Vater starb, so gelangte ich in den Dienst des Lala Mehmet Pascha, der ein Neffe des Sokullu Mehmet Pascha war. In meiner vierzehn Jahre dauernden Zeit bei Lala Mehmet Pascha habe ich alle Höhen und Tiefen, die ständigen Reisen, die der Staatsdienst mit sich bringt, miterlebt. und war dabei, als wir zwei Jahre lang in der Burg Estergon von Feinden belagert waren. Wir kämpften gegen Hunger und Durst und lebten in Angst und Ungewissheit. Am Ende der Belagerung nahm ich an Verhandlungen als Dolmetscher teil und übersetzte Unterlagen und Vereinbarungen. Letztlich wurde die Stadt von den Osmanen den Belagerern übergeben. Wir verließen die Stadt traurigen Herzens aber doch froh, lebend davongekommen zu sein. Ich wurde nach Istanbul zur Berichterstattung beim Sultan delegiert und weil ich auch in Finanzangelegenheiten ausgebildet worden war, wurde ich nun häufiger nach Istanbul geschickt, um befristete Aufgaben zu erledigen.

Zwei Jahre nach der Thronbesteigung Sultan Ahmet I. kam ich wieder nach Istanbul, um Berichte an Beamte in der Finanzverwaltung im Topkapi-Palast zu übergeben. Damals war ich einunddreißig Jahre alt und hatte schon viele Erfahrungen in privaten und beruflichen Angelegenheiten.

Der erste Band meiner zwei bändigen Geschichtsbücher beginnt mit dem Jahr 1520, der Thronbesteigung Sultan Süleyman, des Gerechten und endet mit dem Tod Sultan Selim des Blonden, der vom Volk auch "Der Betrunkene" genannt wurde. Er war im Bad des Topkapi-Palastes ausgeglitten und an den Folgen des Sturzes gestorben.

Wir schreiben das Jahr 1617. Die Sultanahmet Moschee wurde inzwischen eingeweiht und unser Sultan ist noch nicht einmal achtundzwanzig Jahre alt und schon sterbenskrank.

Ich schreibe am zweiten Band meines Geschichtsbuches weiter, das mit der Thronbesteigung Sultan Murad III. beginnt. Verglichen mit dem ersten Band, in dem ich nur die Geschehnisse zusammengefasst habe, schildere ich im zweiten Band auch eigene Erlebnisse und lasse Zeitzeugen zu Wort kommen.

Ich habe bisher viele Aufgaben in staatlichen Angelegenheiten innerhalb des Reiches übernommen, um den Lebensunterhalt für meine Familie und mich zu verdienen. Überwiegend war ich auf befristeten Stellen als Finanzverwalter und Finanzinspektor tätig. Ich betrachtete diese Tätigkeiten als die einzige Möglichkeit, nüchtern die Fakten für die Lebensbedingungen der Bevölkerung zu erkennen und zu bewerten, was mir wiederum als Geschichtsschreiber zugute kommt.

Als zwei Jahre nach dem Tode meiner ersten Frau vergangen waren, heiratete ich im Jahre 1601 in Istanbul die Tochter Ferihan des Tuchhändlers Rauf. Sie war damals siebzehn Jahre alt. Ich bin zehn Jahre älter als sie. Meine erste Frau war schwer krank gewesen und es war eine Erlösung für sie, als sie starb. Aus dieser Verbindung habe ich eine Tochter, die ich in diesem Jahr an den Oberverwalter von Bagdad als Zweitfrau verheiratet habe; sie lebt dort im Harem. Als ich zwanzig Jahre alt war, hatte ich mich bereits mit den vergangenen neunzehn Jahren des Osmanischen Reiches befasst und aus verschiedenen Quellen Historisches aufgeschrieben und war als Zeitzeuge in einigen Kriegen in denen ich als Übersetzer tätig war. Ich war beamtet, fertigte Berichte und Belege und sammelte Materialien über historische Geschehnisse und studierte sie. Mir kamen die Geschichtsbücher von Celalzade Nisanci Mustafa Bey, Kardelenzade Salih Efendi, Tevkii Ramazanzade, Ali Efendi, Hasan Beyzadeli Efendi, Hadidi Efendi und Katip Mehmet Efendi zu Gute. Außerdem ermöglichten meine sehr guten Ungarisch-Kenntnisse das Forschen in Geschichtsbüchern ungarischer Verfasser.

Ich gab mein Geschichtsbuch Musa Pascha zur Durchsicht. Übrigens wurde dieser später Gouverneur von Van. Musa Pascha war für mich eine Autorität in Geschichte, er war sehr gut informiert. Er las mein Buch und empfahl mir, Friedensverträge und Friedenszeiten nicht zu kurz kommen zu lassen, aus denen würde man zumindest genauso viel lernen, wie aus den Erzählungen der Kriege und der Kriegszeiten. Ich war Musa Pascha dankbar für seine Empfehlungen und fügte die neugewonnenen Erkenntnissen meinem Buch hinzu. Aus dem Ungarischen machte ich diesbezüglich Übersetzungen, die auch anderen Interessierten zur Verfügung standen. Ich schrieb meine Geschichtsbuchtexte in einer vom Volk überwiegend verständlichen Osmanisch-Türkischen Sprache und vermied Sprachspielereien. Mein Geschichtsbuch, an dessen zweitem Band ich schreibe, heißt "Tarih-i Peçevi".

Der erste Band ist schon mehrfach handgeschrieben vervielfältigt, liegt in Büchereien aus, steht entsprechenden Stellen und Personen zur Verfügung und hat dem Sultan vorgelegen.

Das wird für das Buch meiner Frau Ferihan nicht der Fall sein. Sie hat noch keinen Namen für ihr Buch. Außerdem ist es kein Buch, welches auf staatliche Förderung hoffen könnte, da sie sich erlaubt, zu schreiben, was sie selbst erzählen möchte und sich auch keinen Zwängen unterwirft. Es wird wohl noch lange Zeit ruhen und auf die Gründung einer Druckerei für die Texte mit arabischen Buchstaben warten müssen, weil die osmanische Schrift nur per Hand vervielfältigt werden darf. Handgeschriebene Bücher sind deshalb nur in wenigen Exemplaren ausgefertigt und teuer. Mit und ohne Absicht können sie fehlerhaft abgeschrieben oder gar Teile ausgelassen werden und absichtlich und auch unerlaubt kann etwas dazu gefügt werden. Vor allem wird dem Volk auf dieser Art und Weise Wissen vorenthalten. Christen und Juden dürften im Osmanischen Reich ihre Bücher mit ihrer Schrift schon immer in ihren eigenen Druckereien drucken. Nur den Muslimen ist das nicht gestattet, angeblich wegen der Heiligkeit der Schrift des Koran; auf der Schrift beruht auch das Osmanische. Es gibt Säle, in denen unzählige Schreiber mit dem Abschreiben von Büchern beschäftigt sind, den tatsächlichen Bedarf an Büchern können sie nicht decken.

FERIHAN
Mein Vater Rauf war ein Waisenkind. Er hat bei einem Kaufmann im bedeckten Basar den Beruf des Tuchhändlers erlernt und war bei diesem Tuchhändler auch weiterhin beschäftigt. Nach dem Tode des Kaufmanns hatte mein Vater den Laden mittels einer schriftlichen Vereinbarung beim Kadi von der Witwe übernommen. Er hat der Witwe bis zu ihrem Tode monatlich eine hohe Rente bezahlt. Meine Mutter Nilhatun stammt aus Ankara. Mein Vater hatte sie bei einer Geschäftsreise im Hause der Kaufmansfamilie flüchtig gesehen, als er der Gast des Hausherrn war und hatte später bei ihren Eltern um ihre Hand gebeten. Aus dieser Heirat stammen wir vergnügten Zwillingsschwestern, Saide und ich.

Mein Mann Ibrahim ist dreiundvierzig Jahre alt, ich bin dreiunddreißig Jahre alt. Wir haben einen Sohn und eine Tochter. Meine Schwester Saide ist mit dem Architekten der Sultanahmet Moschee, Sedefkar Mehmet Aga verheiratet; auch sie haben eine Tochter und einen Sohn. Meine Schwester hat als Mädchen in der Gemeindegrundschule mit mir die gleiche Ausbildung bekommen. Meine Mutter hat uns Gesang und Laute spielen beigebracht und von unserer Nachbarin Tante Saliha, einer sehr gebildeten Frau, welche die Tochter eines sehr berühmten Wesirs ist, der längst gestorben ist, lernten wir Schellentrommel spielen. Damit war das Vertrauen gewonnen, um uns bei ihr weitere Fortschritte machen zu lassen, wie es hier üblich ist. So lange die Mädchen nicht im heiratsfähigen Alter sind, werden sie in geeignete Familien geschickt, um von anderen Personen nötige Dinge zu lernen. Wir bekamen von Tante Saliha zusätzlich zu unserer Schulausbildung weitere Kenntnisse in Geschichte, Mathematik, Chemie, etwas Astronomie, Literatur, Handarbeiten und Etikette beigebracht. Wir wurden von ihr auf unser Leben als Frauen vorbereitet, um uns selbst und anderen nützlich zu werden. Es zeigte sich, dass meine Schwester Saide für Webarbeiten und ich für Literatur besonderes Interesse hatte. In der Tradition der Osmanen interessierte ich mich für Märchen. Ich las viele liebliche Märchen in schönen, handgeschriebenen Büchern und schrieb selbst welche, die ich manchmal auch vorlas. Vor allem unserer schönen Tante Saliha gefiel, was ich schrieb.

Im Jahre 1601 wurde ich Ibrahims Frau. Einige Monate danach heiratete meine Schwester Saide den Architekten Sedefkar Mehmet Aga. Dieser war einst in einer Balkan-Enklave der Osmanen eines der vielen Kinder einer armen Familie. Die Eltern sahen für ihren Sohn keine andere Chance, als den Knaben mit ihrem eigenen Einverständnis einem Janitscharen-Offizier mitzugeben, damit er eine gute Ausbildung bekäme. Der Offizier brachte ihn nach Bursa, wo er ihn drei Jahre bei einer türkischen Familie leben ließ und sich schnell in Sitten und Gebräuchen auskennen lernte. Ibrahim hatte, bis er zehn Jahre alt war, Lesen und Schreiben gelernt, als er nach Istanbul zum Topkapi-Palast gebracht wurde, um in der palasteigenen Schule ausgebildet zu werden. Er lernte feine Tischlerarbeiten, Perlmutbearbeitung und Einlegearbeiten und erwies sich später auch für Bauarbeiten begabt. Meisterschüler des legendären Architekten Sinan waren seine Ausbilder an verschiedenen Bauten. Bald war er gleichzeitig zuständig für die Aufsicht der Perlmut-Einlegearbeiten, wie Türen und Fensterklappen, Einbauschränke, kleine Klapptische, Lesepulte, Sprossen, Gitter, Wandvertäfelungen und vieles anderes in Staatsgebäuden und Konaks reicher Paschas und wohlhabender Kaufleute.

Als ich dreizehn Jahre alt war, hatte mein Vater für unsere Familie unterhalb der Süleymaniye-Stiftung, etwa hundert Schritte vom Ufer des Goldenen Horns, ein zweistöckiges Haus gekauft. Das Haus hat vorn einen kleinen Blumengarten und hinten einen großen Obst- und Gemüsegarten. Schweren Herzens verabschiedeten meine Schwester und ich uns von unseren Nachbarn und Kindern, mit denen wir zusammen aufgewachsen waren.. Unsere Beziehung zu ihnen wurde jedoch durch unseren Umzug nicht unterbrochen. Wir besuchten einander nach wie vor zu religiösen und sonstigen Festen und Anlässen.

Ibrahim hatte von meiner Wenigkeit auf einer Schiffsreise von Varna nach Istanbul erfahren, auf der mein Vater und Peçevi Ibrahim Efendi Passagiere waren. Sie wurden Freunde. Monate später war Ibrahim zu Gast bei uns im Hause. Wie er mir später erzählte, hatte er über unsere Familie und über mich von verschiedenen Quellen Informationen gesammelt und obwohl er mich noch nicht gesehen hatte, hatte er sich entschlossen, mich zu heiraten. Eine Woche zuvor hatte er meinem Vater Nachricht geschickt und um die Besuchserlaubnis gebeten. Mein Vater hatte schon die Absichten Ibrahims geahnt und Informationen über ihn gesammelt, die er mit mir und meiner Mutter besprach. Auch beschrieb er, wie Ibrahim aussieht und sich verhält. Alles gefiel mir und ich wurde später nicht enttäuscht. Noch am gleichen Tag, als er bei uns war, hatte er bei meinem Vater um meine Hand gebeten. Ich sah ihn da zum ersten Mal und hatte die Anwesenden mit Getränken und Gebäck bedient, hatte seine Stimme gehört und einige belanglose Worte zu ihm gesprochen. In vielen Istanbuler Familien waren inzwischen solche Begegnungen nicht außergewöhnlich, denn meine Eltern waren ja dabei. Meine Eltern ermunterten mich, aus meinen Märchen, die ich geschrieben hatte, eine Seite vorzulesen. Damals war meine Schwester schon mit Sedefkar Mehmet Aga verlobt. Sie war auch ganz kurz im Raum und begrüßte den Gast. Und als wir beide eine kleine Weile in der Küche waren, sagte sie, dass ihr der Gast gefalle und sie mir alles Gute wünsche. Meine Eltern zeigten Ibrahim auch noch die Seidenwerkstatt meiner Schwester Saide, der Raum liegt zum rückwärtigen Garten hin, hat helle Fenster und ist ungestört. Saide hatte bei einer früheren Nachbarin gelernt und webte seit drei Jahren kostbare Seidenstoffe, aus denen die Bettdeckenmacher in Kapalitscharschi Steppdecken herstellten. Sie erzielte mit ihren Stepp-Kunstwerken mit Fasanen, Fabelwesen, Paradiesvögeln, allerhöchste Preise.

Saide hatte zwei junge Mitarbeiterinnen, die im Waisenhaus der Süleymaniye-Stiftung wohnten. Sie lernten bei Saide die Seidenweberei und beteiligten sich am Gewinn vom Verkauf. Beide Mädchen waren ursprünglich als Kleinkind mit ihrer Mutter im Sklavenmarkt im Kapalitscharschi verkauft worden. Die Käufer waren ein älteres Paar, bei dem sie lebten und die Mutter leitete beide Mädchen schon früh an, im Haushalt zu helfen. Als später ihre Herrschaft starb, heiratete die Mutter, aber die Mädchen kamen ins Waisenhaus, weil der Mann nicht genug verdiente, um die Kinder mit zu versorgen.

Ibrahim und ich waren einige Monate verlobt und heirateten dann dem Brauch entsprechend mit Hamam-Hochzeit und festlichem Abschied für den Bräutigam, obwohl er das ja schon alles bereits einmal erlebt hatte. Es waren ja auch nicht mehr die gleichen Jugendfreunde. Die hatten sich in alle Winde verstreut, wie es halt geht, wenn der Mensch seine Bleibe dort hat, wo sein Topf kocht. Aber die Männer feiern eben auch ganz gerne Feste unter sich. Zum Brautfest im Hamam waren alle Frauen mit ihren kleinen Kindern und Mädchen gekommen, die mich kannten.

Ibrahim geht sanft mit mir um und ist allen Menschen gegenüber sanftmütig jedoch nicht schwach; er überzeugt und ist geduldig. Hass lässt er gar nicht entstehen, er fürchtet sich davor. Mir hat er einmal gesagt: "Wer hasst, hasst nur sich selbst.". Wenn er jemanden nicht unbedingt mag, zeigt er das demjenigen durch seine Zurückhaltung, die aber nicht nach Abneigung aussieht.

Ibrahim erlaubt mir, weil er mir großes Vertrauen entgegen bringt, seine Texte über die Geschichte der Osmanen zu lesen, bevor er sie ins Reine schreibt. So werde ich deswegen in meinem Buch, wie ich bereits begonnen habe, mich an gebührenden Stellen, einschalten und erzählen und nun unten vorsichtig wiedergeben:
"Murad Pascha hatte mit unserem stärksten Nachbarn im Westen, den Deutschen nach langwierigen Kriegen und Querelen die Friedensvertragsverhandlungen erfolgreich abgeschlossen und wartete in Belgrad auf den Gesandten des Kaisers der Deutschen, der ihn auf seiner Reise nach Istanbul begleiten sollte. Bevor der Gesandte eintraf, erreichte ihn ein Sonderkurier des Sultans, der ihm das Großwesirsiegel und den Befehl des Sultans überreichte. Er las: 'Ohne Einflussnahme anderer Menschen, habe ich mich entschlossen, das Siegel des Großwesirs meines Reiches dir zukommen zu lassen. Ich hoffe, dass du mit Allahs Hilfe in allen Aufgaben dieses Amtes erfolgreich bist und unserem Ruhm und unserer Ehre zu Gute kommst".

Diese Zeilen hatte Ibrahim in sein Geschichtsbuch geschrieben. Ich las noch andere Quellen zeitgenössischer Geschichtsschreiber, die darlegten, dass zu Zeiten des Derwisch Pascha die Bekämpfung der Räuberbanden und Aufständischen in Anatolien vernachlässigt wurde. Dieser erfolglose, verhasste Derwisch Pascha hatte vieles besteuern lassen, sogar die Erker der Istanbuler Häuser. Die Hausbesitzer, insbesondre die Frauen, die aus ihren Erkern draußen alles beobachteten ohne gesehen zu werden, waren sehr verärgert. Die Mieten stiegen ebenfalls wegen der Erkersteuer. Die Hausbesitzer fürchteten, Derwisch Pascha werde sich weitere bisher unbekannte Steuern einfallen lassen. Den Geschäftsleuten ging es ebenso. Wegen der hohen Steuer waren die Leute nicht in der Lage, ihre Käufe in gewohnter Weise zu erledigen; sie kauften deshalb weniger ein. Derwisch Pascha hatte für den Bau seines Privatpalastes große Mengen Geld von einem Geldverleiher geliehen. Als dieser sein Geld in Raten mit Zinsen zurück haben wollte, leugnete Derwisch Pascha seine Schulden und schüchterte den Geldverleiher derart ein, dass dieser es mit der Angst bekam und den Schuldschein vor den Augen Derwisch Paschas zerriss und davonging.

Der Geldverleiher beriet sich mit einigen Leuten, die durch Baumaterial, Schmuck, Lebensmittellieferungen und sonstige Verkäufe von Derwisch Pascha Geld zu bekommen hatten. Alle hatten mit diesem merkwürdigen Amtsinhaber keine guten Erfahrungen gemacht. So erdachte einer dieser Leute einen Plan, wie dem Derwisch Pascha beizukommen wäre. Derwisch Pascha hatte gerade an einer Außenmauer des Topkapi-Palastes neue Pferdeställe bauen lassen. Ein Gerücht sollte verbreitet werden. Das Gerücht lautete, Derwisch Pascha habe vor, unterhalb der Mauer des Palastgartens einen Tunnel bauen zu lassen, um von dort aus für seine gemeinen Taten in den Palast zu gelangen, um den Sultan durch eingeschleuste Schergen töten zu lassen. Das Gerücht gelangte schnell zum Sultan, der sich mit seinen wichtigen Vertrauten beriet. Diese kannten sehr genau die Machenschaften des von allen gehassten Derwisch Pascha. Das Gerücht mit dem Tunnel kam ihnen nicht ungelegen. Der Sultan und seine Vertrauten verhielten sich bei ihren Begegnungen mit Derwisch Pascha so, als wäre alles in Ordnung und wagten nur ein leichtes Schlummern, um sich nichts anmerken zu lassen, bis die Zeit reif wäre. Am 11. Dezember 1606 wurde Derwisch Pascha zum Palast geladen, von Scharfrichtern überwältigt und mit Zeltschnur erdrosselt. Das Leben wollte wohl nicht aus dem Körper weichen, denn der zuckte noch. Der Dolchstoß des Sultans hat dem Schurken ein Ende gemacht, womit der Pascha wohl nicht gerechnet hatte.

Das Istanbuler Volk atmete auf und hatte genug Gründe, sich zu freuen. Überall in Häusern und Geschäften feierten die Leute, was nicht zu übersehen und zu überhören war. Aus den Häusern hörte man Gelächter und Musik, was bis zu den Ohren des Sultans und in die Gemächer und die Gärten im Topkapi-Palast drang.

Kapitel 4
Kara Yahya Efendi, Leiter der Musiker des Topkapi-Palastes, erzählt:

Am kühlen Morgen des 22. Dezember 1603 wickelten die Muezzine ihre Schals um die Hälse um ihre Stimmen nicht zu gefährden, erklommen die Stufen der Minarette und riefen von den Galerien wie immer mit wohlklingendem Rufe die Gläubigen zum Gebet. Nachdem die Gebetsrufe verklungen waren, waren wir Musiker der Mehter-Kapelle im Garten des Topkapi-Palastes an der Reihe und spielten wie jedem Morgen Stücke zum Munterwerden. Es ist eine Menge Volk im Palast, natürlich unser Herrscher Sultan Ahmet I., seine Frauen und Kinder samt Sklavinnen und Bediensteten, und in allen dazugehörenden Palastgebäuden, Verwaltungsgebäuden, Archiven, Schatz- und Lagerhäusern, Schulen, Werkstätten, in Unterkünften, Bädern, Küchen, Ställen, überall regte sich das Leben. Sämtliches Palastvolk einschließlich der Schüler, Verwalter, Soldaten, insgesamt über 5000 Menschen wurden für den neuen Tag angenehm geweckt, wenn sie noch nicht aufgestanden waren und ihr kurzes Morgengebet noch nicht verrichtet hatten. Wenn die Wetterverhältnisse es erlaubten, wurden vom Winde die Klänge bis in die umliegenden Stadtteile getragen. Unsere Kapelle hat einen mächtigen Klang mit all den Blasinstrumenten, den Schellenbäumen und den vielen Trommeln. Sogar bis Kadiköy auf der anderen Seite der Meerenge hat man uns schon gehört, habe ich mir erzählen lassen. Ich bin bereits im zehnten Jahre der Vorsteher der ruhmreichen osmanischen Mehter-Kapellen.

Von meinem Vater, der im Palast Gebetsrufer war, war ich als zwölfjähriger Knabe zu einer der Kapellen im Topkapi-Palast in die Lehre gegeben worden. Innerhalb der Gartenmauern des Palastes unten in der palasteigenen Musikschule nicht weit vom Ufer des Marmarameeres, hatte ich mit etwa hundertzwanzig Knaben gemeinsam Musikinstrumente spielen und Gesang gelernt. Meine Ausbildung dauerte sieben Jahre. Freitags hatten wir immer frei und wer Eltern in Istanbul hatte, besuchte sie; Knaben, die keine Eltern oder Verwandte hatten oder deren Angehörige nicht in Istanbul wohnten, wurden manchmal zu Istanbuler Familien mitgenommen. Wir besuchten anlässlich des Freitagsgebets eine der mächtigen Moscheen in Istanbul und gingen im bedeckten Basar einkaufen oder auch nur hin, um uns alles in diesem Kapalitscharschi anzusehen.

Mit neunzehn Jahren erhielt ich die prächtige Tracht als Mitglied der Mehter-Kapelle des Palastes und spielte abwechselnd alle Blas- und Schlaginstrumente und sang mit anderen gemeinsam Istanbuler Lieder und meistens noch andere Lieder aus dem Balkangebiet. Wir spielten Märsche. An festlichen Tagen zog unsere Kapelle in die Stadt. Wir spielten auf Plätzen Istanbuls, wo allerlei Vergnügungen zu Festlichkeiten aufgebaut worden waren. Es gab Schaukeln, Gauklern und sonstige Attraktionen. Wir hatten unsere Freude daran, wenn die Bevölkerung uns begeistert Beifall spendete.

Mit einundzwanzig Jahren heiratete ich Hanife, die Nachbarstochter meiner Eltern, die im Istanbuler Stadtteil Aksaray wohnten. Da war ich schon stellvertretender Kapellen-Meister. So spielte zu meiner Hochzeit eine kleine Gruppe unserer Mehter-Musiker im Hausgarten meiner Braut. Männer und Frauen tanzten getrennt die Reigen zur Hochzeitsmusik. Meine Braut bekam Geschenke. Ich verteilte Münzen und Süßigkeiten an die Kinder, die der Braut und ihren Begleitern den Eingang zu unserem Haus versperrten und den üblichen Brautzoll verlangten. Die Feierlichkeiten dauerten bis spät in die Nacht.

Als ich mit fünfundzwanzig Jahren Kapellmeister wurde, hatten wir schon zwei Söhne und eine Tochter. Ich durfte zu Hause übernachten und ging früh morgens zu Fuß zum Palast.

Am 22. Dezember 1603 befand ich mich in der Diwanversammlung des Topkapi-Palastes, an der ich bei Bedarf teilnahm. Der Diwanleiter Kasim Pascha und andere Wesire waren versammelt und die Sitzung konnte beginnen. Der Oberste Torwächter des Palastes erschien im Versammlungsraum mit einer Papierrolle in der Hand, die ein Schreiben des Sultans sein musste. Der Oberste Torwächter gab die Rolle dem Wesir Kasim Pascha, auf der, wie ich später erfuhr, wortwörtlich folgendes stand:
"An Kasim Pascha, meinen Wesir. Allah, der Gütige, hat meinen Vater Sultan Mehmet III. zu sich geholt. Ich bin auf den Thron gestiegen. Die Ordnung der Stadt liegt in deiner Verantwortung; sollte sich jemand dieser Anordnung widersetzen, werde ich dich köpfen lassen."

Dieses Schreiben verblüffte den Diwanleiter Kasim Pascha. Dergleichen war bisher nie vorgekommen. Er musste sich vergewissern. Er verfasste ein kurzes Schreiben an den Haremsleiter, in dem sinngemäß folgendes stand: "Mir wurde ein Schreiben des heiligen Reiches eingereicht. Der Grund und die Ursache sind mir nicht ganz eindeutig. Werde ich geprüft oder gibt es einen wichtigen Grund. Bitte, beseitigt unseren Zweifel."

Nach kurzer Zeit wurde der Leiter des Diwan, Wesir Kasim Pascha, zum Thronsaal geleitet. Dort saß Ahmet auf dem Thron, der ältere der beiden Söhne von Sultan Mehmet III. Daraufhin wurde an den Obermufti ein Schreiben geschickt und dem Oberarchitekten befohlen, mit den Beerdigungsvorbereitungen für den verstorbenen Sultan zu beginnen.

Alle Wesire des Diwans wurden zum Thronsaal geladen. Der neue Sultan war ein vierzehnjähriger Knabe. Als alle versammelt waren, erschien er und trug auf seinem Haupte die Würde des Reiches, den Sultansturban. Er grüßte mit leichten Kopfbewegungen die Anwesenden auf beiden Seiten des Weges zum Thron, der vor dem inneren Tor des Palastes aufgestellt war. Als er sich auf den Thron setzte, gaben alle Anwesende, Offiziere, Obermufti, Diwanleiter, Wesire, Heeres- und Marineleiter und sonstige Offiziere ihrer Freude freien Lauf und gratulierten dem neuen Sultan, indem sie der Reihe nach die Hand des jungen Sultans küssten. Als diese Zeremonie zu Ende war, erhob sich der Sultan, grüßte die auf beiden Seiten Anwesenden anmutig und begab sich zurück in den Harem.

Alle eilten fort, um sich für das Begräbnisritual zu kleiden. Wesire und sonstige Staatsgrößen setzten sich ihre Trauerturbane und sonstige Trauer-Kopfbedeckungen auf. Die Gefolgschaft nahm am Nachmittag an dem Bestattungsgebet teil, das unter der Leitung des Obermufti gehalten wurde. Den Leichnam des Sultans trugen die Wesire auf ihren Schultern zum Grabmal der Ayasofya Moschee, wo man ihn neben seinem Vater Murad III. beisetzte.
Genau so las ich später die Beschreibung auch im Geschichtsbuch des Ibrahim Peçevi Efendi, der während der Zeremonien in meiner Nähe gestanden hatte.

Fast alle Sultane, außer Süleyman, dem Gerechten und Selim II. hatten dem Gesetz entsprochen und ihre Brüder töten lassen, um Erbstreitigkeiten und daraus folgende Bruderkriege zu vermeiden. Sultan Ahmet I. ließ seinen ein Jahr jüngeren Bruder Mustafa am Leben, hob das Gesetz auf und erließ ein neues Gesetz, in dem fortan der ältester Sohn des verstorbenen Sultans berechtigt ist, auf den Thron zu steigen.

Der neue Sultan war von seinem Lehrer Lala Mustafa Efendi gut ausgebildet worden. Es zeigte sich, das dieser junge Herrscher ein mitfühlender Mensch war. Das Volk nahm sein Verhalten mit Freude auf. Wo immer ich mich als Leiter der Mehter-Kapelle aufhielt, las ich in den Mienen der Menschen Hoffnung auf bessere Zeiten. Wir Musiker der Kapelle empfanden unsere morgendliche Musik wichtiger denn je und spielten mit Hingabe, und in der palasteigenen Musikschule hatten die Knaben an ihrer Ausbildung mehr Freude und übten eifriger als zuvor, dass man es unten am Ufer des Marmarameeres hören konnte.

Kapitel 5
Lala Mustafa Efendi erzählt:

Als mein Schüler, nun der neue Sultan wurde, war meine Freude groß, andererseits war ich auch besorgt. Es war üblich, dass jeder neue Sultan die Treue der Elitesoldaten, der Janitscharen und Reiter mit Goldmünzen für sich gewann. Die Staatskasse, die in der Regel verschuldet war, wurde mit Schulden erneut belastet. Kann eine leere Staatskasse überhaupt noch leerer werden? Der noch von Sultan Mehmet III. vor kurzem zum Großwesir ernannte Malkoçoglu Ali Pascha, welcher Gouverneur Ägyptens war, wurde nun vom neuem Sultan, meinem Schüler, Sultan Ahmet I. als Gouverneur von Ägypten bestätigt. Eine Woche nach der Thronbesteigung Ahmets, traf Malkoçoglu Ali Pascha in Istanbul ein. Steuereinkommen von zwei Jahren brachte er mit, daraufhin wurden eine Million und zweihunderttausend osmanische Goldmünzen als Thronbesteigungsgeschenk an die Janitscharen verteilt. Das war das „Ulufe". Der Gedanke, das Ulufe aufheben zu wollen, hätte sicherlich Unzufriedenheit, möglicherweise sogar Aufstände der Janitscharen verursacht. Sultan Ahmet war unerwartet jung auf den Thron gelangt. Ich hatte noch gar nicht mit ihm über dieses Thema reden können, obwohl ich bislang sein Lehrer gewesen war. Hätte ich mit ihm das Problem der leeren Kassen und das Ulufe besprochen und ihn beeinflusst, anders zu verfahren, hätten von daran Interessierten schnell Verleumdungen hinzugedichtet werden können, wäre mein Einfluß irgendwie heraus gekommen; diese zu entkräften, wäre sicher in erster Linie für mich und außerdem für die Zukunft meiner Familie äußerst schwierig. In einem Palast wie diesem ist zu allen Zeiten mit unvorhergesehenen Ereignissen zu rechnen. Das hatte ich zumindest meinem intelligenten Schüler Ahmet während seiner Ausbildung zum Thronfolger vermittelt. Besitz und Macht und der Umgang damit, der nicht immer gewaltlos und wohlwollend war, lag in den Händen weniger Menschen und war deren Lust und Laune überlassen. Die Machthaber merkten es später, dass ihre Wünsche nur scheinbar in Erfüllung gingen. Auch die unbedeutenden Menschen erlebten es so, nur die Ausmaße waren bescheidener.

Nur das Beschneidungsfest ihres Enkels, des jungen Sultan Ahmet I.durfte Sultanin Safiye vor ihrem unfreiwilligen Umzug noch im Topkapi-Palast miterleben; so hatte es der junge Sultan selbst angeordnet und zwei Tage später geschah es. Am 10. Januar 1603, zweieinhalb Wochen nach seiner Thronbesteigung veranlasste Sultan Ahmet I., wie üblich, den Umzug seiner Großmutter Sultanin Safiye mit verringerten Gefolge zum alten Palast im Stadtteil Beyazit, damit sie dort ihre Ruhe bis zu ihrem Lebensende genießen könne. Sultanin Safiye war mit ihren guten, als auch mit weniger guten Taten berüchtigt. Sie hatte sich 28 Jahre lang in Palastintrigen eingemischt und sich und die Vermittler in zweifelhaften Geschäften wie Ämterverkauf, Einkäufe für allerlei Palastbedarf, in Bauangelegenheiten und anderen Dingen zu bereichern verstanden. Am gleichen Tage nach dem Umzug der Sultanin Safiye, wurden beide Obereunuchen des Harems abgesetzt, der Schwarze und der Weiße, welche ständig in die zweifelhaften Machenschaften der Sultanin Safiye verwickelt gewesen waren und sich und ihre eigenen Leute bereichert hatten. Einige Tage später wurden sie geköpft.

Es war der 8. Januar 1603, die Mehter-Kapellen des Topkapi-Palastes spielten in Abständen den ganzen Tag Lieder aus allen Teilen des Reiches. Karawanen aus allen Teilen der uns bekannten Welt, die Geschenke zur Thronbesteigung des Sultans und zu seiner Beschneidung brachten, nahmen kein Ende. Kein Sultan war bisher nach der Thronbesteigung beschnitten worden. Eine Beschneidung im Alter von vierzehn Jahren ist aus gesundheitlichen Gründen nicht üblich. Üblich waren Beschneidungen im Knabenalter zwischen dem fünften und dem neunten Lebensjahr. Sultan Ahmets Beschneidung hatte sich verzögert. Feste feierte man nicht, wenn der Vater, Sultan Mehmet III. wegen der Kriege häufig längere Zeit abwesend war oder seiner Jagdleidenschaft frönte, um sich von Kriegen zu erholen. Als ein geeigneter Zeitpunkt kam, war Ahmet selbst erkrankt und die Beschneidung wurde wieder verschoben; inzwischen ist er selbst der Herrscher geworden, obwohl all das ihm noch bevorstand.

Nun war die Stunde der Beschneidung gekommen. Er wurde in das Beschneidungszimmer geleitet und dort zeremoniell von dem eigens dafür ausgebildeten Wundarzt des Topkapi-Palastes beschnitten und die Wunde sorgsam versehen. Der Raum selbst ist mit allerschönsten Blumenkacheln geschmückt, ein schöner Augentrost für diejenigen, die dort ein paar Tage mit Unterhaltung das Bett hüten, damit die Heilung der kleinen Operation unter Aufsicht zügig fortschreitet. Der junge Sultan erkrankte aber an den Pocken, während er noch im Beschneidungszimmer auf seine Genesung wartete. Niemand hatte an solch eine ungute Wendung gedacht. Eine schwere Krankheit, die eigentlich vermeidbar war, indem im Kindesalter eine Impfung mittels Blutegeln praktiziert wurde. Jedenfalls war das längst der Brauch. im Osmanischen Reich, zumindest in begüterten Häusern durch Pockenimpfung mittels Blutegeln erfolgreich vorzubeugen. Im Falle Ahmets hatten die Zuständigen das wohl versäumt. Ahmets Krankheit verlief schwer. Das ganze Volk hat sich Sorgen gemacht und es fanden keine pompösen Beschneidungsfeste statt. Ich war jeden Tag bei ihm; wenn sein Fieber nicht allzu hoch war und er seine Umgebung wahrnahm, freuten wir uns beide. Ich las ihm Gedichte von seinen Ahnen vor, die er auch teilweise kannte. Fast alle Sultane konnten mit Worten gut umgehen und waren häufig Poeten; sein Vater Sultan Mehmet III. hatte mit dem Dichternamen "Adli", Gedichte geschrieben.
Nach acht Wochen konnte Sultan Ahmet I., das Bett wieder verlassen; auf seinem Gesicht blieben kleine, unschöne Pockennarben zurück. Er nahm allmählich seine Staatsgeschäfte auf. Sein Vater Mehmet III. hatte im Osten und Westen des Reiches Kriege geführt, manche gewonnen oder manche verloren. Aufstände und Räuberbanden rieben an den Kräften des Staates und des Sultans.

Mein Schüler, mein Sultan Ahmet, musste die Art des Regierens seiner Ahnen fortsetzen. Die Entwicklungen im Lande und außerhalb des Landes zwangen ihn zu kriegerischen Auseinandersetzungen. Die Verantwortungsträger auf allen Ebenen des Staates glaubten, dass Personen mit besserer Moral, Anstand und Frömmigkeit fehlten; dies sei die Ursache für die leeren Staatskassen. Sie dachten nicht darüber nach, ob Wissen und Verantwortung statt auf wenige Personen wie Sultane, Wesire und Offiziere zu verteilen, etwa auf möglichst viele Menschen übertragen werden sollte. Das Volk war sich seiner Zukunft nicht sicher und lief Gefahr in Angst und Armut zu verfallen.

Die unermesslich erweiterten Grenzen des Osmanischen Reichs brachten der Staatskasse immer weniger Einkommen und waren nur mit mehr Geld und Menschenblut zu erhalten. Diese instabilen Zustände mussten ein Ende haben; nur mit einem anderen Verständnis des Regierens wäre das zu erreichen. Wissen und Gerechtigkeit für alle mussten eine Selbstverständlichkeit sein. Die eroberten Länder und Enklaven, die ihre erwirtschafteten Güter als Geld und Ware überwiegend an unser Reich lieferten, wurden immer ärmer, weil nichts dorthin zurückfloss. Es wundert deshalb nicht, wenn sich Gegenkräfte bemerkbar machten, deren Ziel es war, die Zustände zu ändern. Wenn sie bei ihren Nachbarländern sahen, dass deren Regenten die Untertanen in Glaubensangelegenheiten bevormundeten, sahen sie dort keine Zukunft für sich und hielten das Osmanische Reich widerwillig aus. Der Boden ließ die Bauern oft im Stich und gab nicht die nötigen Erträge; die Söhne der Händler und Handwerker waren ihrer Zukunft nicht sicher. Die Käufer waren auch nicht immer gerecht und handelten so lange, bis dem Erzeuger der Ware kein Gewinn mehr blieb. Dazu kam noch, dass manche örtlichen Verwalter sich auf Kosten anderer Menschen bereicherten, obwohl sie wussten, dass diese Machenschaften sie Kopf und Kragen kosten könnte. Sie glaubten wohl, das passiere ihnen nicht. Trotz aller Schwierigkeiten vermehrte sich die Zahl der gebildeten Menschen unter den nichtmuslimischen Untertanen. Sie konnten schreiben und lesen. Sie durften ihre Schriften druckten und verbreiten. Wir hingegen hinken hinterher. Den muslimischen Untertanen ist es immer noch verboten, Bücher zu drucken. Die handschriftlich vermehrten Bücher können sich nur begüterte Menschen leisten. Die zur Verfügung stehenden Bücher sind deshalb zu wenig, einmal abgesehen davon, dass sie manchmal mit oder ohne Absicht fehlerhaft oder gekürzt sind oder sonstige Mängel haben. Ich hatte mit meinem Schüler Ahmet, der nun unerwartet und etwas zu früh Sultan wurde, alle diese Fakten im Laufe der Ausbildung besprochen, ohne den Eindruck zu erwecken, das er ständig der Belehrte sei. Er war begabt und lernte aus eigenem Interesse; er hatte eine gesunde Neugierde. Für Neues war er sehr aufgeschlossen und wenn es ihn überzeugte, war er zu begeistern. Diese natürlichen Anlagen sind die größten Geschenke des Allmächtigen an einen Menschen. Das war meinem Schüler Ahmet auch bewusst. Seine Intelligenz erlaubte ihm, dies zu schätzen und die notwendige Bescheidenheit und Entschlossenheit in seinen Gesamtvorhaben zu wahren.

Nach meiner Einschätzung bringen diese Eigenschaften alle Kinder mit in die Welt, wenn sie vom Geburt an nicht geistig behindert sind, von ihrer unmittelbaren Umgebung Liebe und Anerkennung erfahren und in allen guten Fähigkeiten gefördert werden. Als ich der Lala von Ahmet wurde, war er fünf Jahre alt, gewiss ein schwieriges Alter. Manche trotzige Phase gelang mir mit Geschick durch Ablenkung auf neue, interessante, dem kindlichen Alter angemessene Themen in sprühende Begeisterung oder in Anteilnahme zu verwandeln, je nach Vorkommnis.

Ich erinnerte mich an meine eigene Kindheit in Buchara, meiner Heimatstadt in Asien. Ich war noch ein kleines Kind, der einzige Sohn eines reichen adeligen Kaufmannes, hatte zwei ältere Schwestern und bekam einen Lala, wie mein Schüler Ahmet. Als ich zehn Jahre alt war, starb mein Vater und hinterließ Schulden; wie ich später oft Zeuge wurde, war das nicht außergewöhnlich. Zu Lebzeiten eines Kaufmanns wusste niemand außer ihm selbst, wie es um sein Vermögen und um die Schulden stand. Eher glaubten die meisten Menschen, der oder jener Kaufmann sei vermögend, weil er irgendwelche Geschäfte betrieb und Häuser besaß. Jedenfalls waren wir auf einen Schlag verarmt. Meine Schwestern heirateten kurz darauf und eine von ihnen nahm meine Mutter zu sich, weil ihr Ehemann keine Mutter mehr hatte.

Der Kaufmann Zahir Efendi nahm mich zu sich, ich sei bei seiner Familie so lange ein Gottesgast, bis die Dinge einen für mich besseren Verlauf bekommen, sagte er. Ich wurde von einem Geschäftsnachbarn meines gestorbenen Vaters beraten. Er legte mir dar, was ich für Aussichten hätte, wenn ich nach Westen zum Osmanischen Reich zöge. Er kenne einen Karawanenbesitzer aus dem Osmanischen Reich, der in sechs Monaten mit seiner Karawane wieder in Buchara zu erwarten sei. Der Kaufmann sagte mir, da ich bisher einen guten Lala gehabt habe, sei ich ein gut gebildeter Knabe und könne über meine türkische Sprache hinaus gut Persisch und Arabisch sprechen, schreiben und lesen. Ich hätte gute Aussichten, aus mir könne etwas werden. Inzwischen wurden die Bücher meines verstorbenen Vaters und die der Gläubiger geprüft. Die hinterlassenen Schulden meines Vaters wurden mit dem Eigentum beglichen. Unser Haus war von einem Gläubiger meines Vaters übernommen worden und ein anderer Gläubiger hatte das Geschäft mit Ware und Inventar übernommen. Der Kadi hatte alles geregelt und mein gestorbener Vater war dadurch schuldenfrei.

Kaufmann Zahirs Sohn Halil, lehrte in einer Medresse in Buchara Mathematik, Astronomie, Sprachen und Religion. Dort bekam ich von ihm mehrere Bücher in osmanischer Sprache aus seiner Privatbibliothek und las. Es gab auch Bücher, die in türkischer Sprache geschrieben waren und gut verständlich waren hingegen das Osmanische zu je einem Drittel aus Türkisch, Persisch und Arabisch besteht und mehr oder weniger eine Sprache der Verwalter ist und die Bücher auch deshalb in schwer verständlicher Art zusammengemischt waren. Ich war bald überzeugt, dass der Verfasser den Inhalt selbst nicht gänzlich verständlich hatte ausdrücken können. Ich gab mir Mühe und las alle Bücher und wenn ich etwas nicht verstand, fragte ich Halil und seinen gebildeten Vater und seine Freunde, die mir gerne halfen. Mitte Frühjahr traf die Karawane aus Istanbul in Buchara ein. Zahir Efendi stellte mich dem Karawanenleiter Ratib Efendi vor, der Kaufmann war und erzählte ihm mein Schicksal. Er sah ein, dass die Hilfe mir gegenüber angebracht war und fasste sie auf als Gottgefälligkeit, wie es bei Muslimen üblich ist. So behielt er mich in dem drei Wochen dauernden Buchara-Aufenthalt bei sich und nahm mich zu den Leuten mit, mit denen er seine geschäftlichen Angelegenheiten erledigte. So kam ich unter allerlei Leute in verschiedene Stadtteile von Buchara. Er sprach mit mir je nach Situation Türkisch oder Osmanisch. Wenn ich etwas nicht verstand, erklärte er mir, was es bedeutet. Das Türkisch, was er sprach, war anatolisches Türkisch und noch verfeinert, Istanbuler Türkisch, das ich verstand und den Unterschied zu unserem usbekischen Türkisch einigermaßen nachvollziehen konnte.

Seine Karawane bestand aus hundert Kamelen, zehn Händlern und ihren zwanzig Gehilfen und fünfzig Schutzsoldaten. Wie üblich hatten die Händler für eine Karawanenreise etwa ein Fünftel oder ein Sechstel ihres Handelsvermögens in ein Karawanengeschäft gesteckt. Falls etwas durch Überfälle oder Nichtvorhergesehnes verloren gehen sollte, wurden die Verluste auf diese Weise in überschaubaren Grenzen gehalten. Die transportierten Waren waren abgeladen, verkauft, bezahlt und neue Geschäfte abgeschlossen. Waren, die in Buchara auf den Transport nach Istanbul warteten, standen im Lager der Karawanserei bereit. Je mehr sich der Abreisetag näherte, umso mehr freute ich mich auf die Reise und auf Istanbul, die Stadt, die hier jedem als unerreichbar weit entfernte Märchenstadt und Weltmachtzentrum erschien. Eine Vorstellung von Istanbul hatte ich schon aus Beschreibungen, und Miniaturen in handgeschriebenen Büchern hatte ich mir angesehen. Diese Bücher waren unbezahlbare Kostbarkeiten. In Usbekistan war das Drucken von Büchern nicht erlaubt, weil die Schrift auf der heiligen arabischen Schrift beruhte und nur handschriftlich vermehrt werden durfte. Ich war so aufgeregt, dass mein Herz pochte. Bald würde ich in einer anderen Welt leben, mir aus Büchern bekannt und doch noch unerreichbar. Andererseits, war ich auch etwas traurig, weil ich hier Verwandte, Freunde, die Landschaft und mir Vertrautes verlassen musste. Selbst das Klima sei in Istanbul anders, hatte Kaufmann Ratip Efendi gesagt. Mein Verlangen nach Neuem war so stark, dass ich diese Reise und den Neuanfang als eine Herausforderung auffasste und, wenn ich ganz ehrlich bin, ja, als ein Abenteuer.

Die Zeit verstrich. Die Kaufleute hatten ihre Geschäfte abgewickelt und sich von den Strapazen der Reise erholt. Karawanenbegleiter und die Kamele hatten für die Rückreise neue Kräfte gesammelt. Anfang Mai 1576 brach unsere Karawane auf, die überwiegend mit kostbaren Seidenstoffen, Pelzen und Edelsteinen, Parfum und teuren Farbstoffen beladen war. Ich hatte mich in der Woche zuvor von allen meinen Verwandten und Bekannten verabschiedet und wusste nicht, ob ich sie je wiedersehen würde. Buchara war von Istanbul weit weg. Die Straßen waren durch Kriege, Aufstände und Naturkatastrophen oft nicht passierbar. Auch unsere Reise konnte voller Gefahren und Überraschungen sein.

Während der Reise unterhielt ich mich mit den Mitreisenden und abends mit Leuten der Karawane, die unter sich Istanbuler Türkisch sprachen. Abends lauschte ich ihren Märchen, Gedichten und Familiengeschichten; so verbesserte ich meine Sprachkenntnisse, was mir mehr und mehr meine Unsicherheit nahm.
Ohne gefährliche Vorkommnisse während der mühsamen Reise, kamen wir müde aber gesund nach etwa drei Monaten in Istanbul an. Reisen von Buchara nach Istanbul waren seltener als in früheren Zeiten, denn auf der Route waren Handelszentren in dazwischen liegenden Orten gegründet worden; noch lohnte es sich, eine Karawane zu halten, weil in Buchara die Preise günstiger lagen. In Istanbul angekommen, blieb ich drei Tage bei der Kaufmannsfamilie Ratib zu Gast. Die Gastgeber hatten fünf Kinder, eines der Kinder war ein Mädchen. Es hieß Alevsun und war auch 10 Jahre alt. Übrigens habe ich dieses Mädchen später geheiratet. Kaufmann Ratib nahm mich am vierten Tage zur Fatih-Medresse mit; wo sein Sohn Ilhami studierte. Ilhami ist zwei Jahre älter als ich. Ich wurde dort als wohnender Schüler aufgenommen. Neun Jahre lang lernte ich bei guten Lehrern die Wissenschaften; der Stoff war umfangreich und umfasste Arabisch, Persisch, Latein, Literatur, Philosophie, Religion, Mathematik, Chemie, Physik, Astronomie, Geographie, Musik und Architektur. Die Schule gehörte zur Fatih-Stiftung, die aus den Mieten der stiftungseigenen Läden und Ländereien außerhalb Istanbuls finanziert wurde. Auch die Ausgaben der Schüler und Studenten einschließlich Essen, Unterbringung und Taschengeld, wurden von der Stiftung finanziert.

Dieser Brauch im Osmanischen Reich ist Tradition. Sultane, Sultaninnen, Wesire, wohlhabende Staatsleute und reiche Kaufleute haben Stiftungen errichten lassen, die in der Regel um eine Moschee aus Gemeindeschulen und weiterführenden Schulen, welche die Medressen sind, aus Krankenhäusern, aus Läden, Büchereien, Armenküchen, Brunnen und anderen Bauten und Einrichtungen bestehen. Dieser Brauch ist eine Möglichkeit in dieser vergänglichen Welt, in der man zu rechtmäßigem Vermögen oder möglicherweise auf krummen Wegen zu Reichtum gelangt war, den Lebenden etwas nützliches zu hinterlassen, damit nach dem Ableben des Stifters der Dank der Versorgten für diesen gewiss wäre und die Gebete zu Gott empor stiegen, um Ehre für die Stifter zu erwirken oder gar das Werk als Sühne gelten zu lassen.

Die Zeit verging. Ich genoss, dass für mich der Traum von Istanbul tatsächlich wahr geworden war und ich alle Schönheiten erlebte. Das machte mich glücklich. Es gab zwar auch unerfreuliche Ereignisse und auch manchmal Ärger mit Mitmenschen. Die winterliche feuchte Kälte Istanbuls setzte mir zu. Manchmal gab es Erdbeben, die jedoch während meiner Anwesenheit in Istanbul keine großen Schäden verursachten. Istanbul ist wie eine Perle des Universums. Wenn man dort ist, lebt man in ihr und verlässt man die Stadt, so schimmert sie wie eine Perle im Herzen weiter.

Allmählich hatte ich auch Kontakte zu christlichen und jüdischen Gelehrten, die in den Nachbargemeinden der Fatih-Medresse wohnten und erfuhr von ihnen über die neuen Erkenntnisse in Wissenschaft und Technik in Westeuropa. Zwangsläufig begann ich Vergleiche zu ziehen zwischen den Möglichkeiten der Gelehrten, die andere Sprachen beherrschten und gedruckte Bücher lesen konnten. Unser Wissensstand, der an der Medresse gelehrt wurde, war nicht auf dem neuesten Stand, weil Übersetzungen der neuen Erkenntnisse in unserer Sprache nur handgeschrieben wurden. In Folge der geringen Verfügbarkeit war also wichtiges Wissen nur wenigen Personen zugänglich.

Unsere Lehrer waren nicht gut informiert und die meisten von ihnen machten sich darüber keine Gedanken. Einrichtungen wie Labors und gar Sternwarten fehlten. Im Osmanische Reich galten weiterhin andere Schwerpunkte. Es hieß, es müsse genügen, wenn die vorhandenen drei Religionen, der Islam, das Christentum und der Judaismus, tolerant miteinander auskämen. Militärstärke, Recht und Finanzen im Lande sollten gut gewahrt werden. Über Beziehungen zu anderen Staaten mittels eigener Gesandtschaften wurde nicht geredet. Es gab sie nicht. Dabei hätte man neue Entwicklungen aus erster Hand erfahren können, wenn es welche gegeben hätte. Aber die wichtigsten fremden Reiche hatten ihre Vertretungen im Osmanischen Reich und waren immer bestens über die Lage des Osmanischen Reiches informiert. Es wäre sicher auch gut, nicht nur Gesandte anderer Länder im Osmanischen Reich zu haben, ich wünschte mir, an unseren Medressen sollten die fortschrittlichsten Wissenschaftler aus anderen Ländern von Hochschulen aus den Metropolen anderer Reiche bei uns lehren. Ich war nicht der einzige unter den Hochschülern, der so dachte. Aber wir fügten uns in die Lage, denn wir hatten keinerlei Einfluss und konnten keine Änderung bewirken.

Nachdem ich die Medresse mit Erfolg abgeschlossen hatte, wurde mir ein Angebot gemacht, im Topkapi-Palast in der palasteigenen Schule als Hilfslehrer zu arbeiten. Dort wurden Kinder erzogen und unterrichtet, die aus allen Teilen des Osmanischen Reiches überwiegend aus christlichen Familien im Westen wie eine Art Steuer eingezogen worden waren. Man hatte sie zur Ausbildung mitgenommen und zuerst in muslimischen Familien untergebracht und erzogen. Später kamen sie zum Topkapi-Palast in die Schulen, und wenn sie sich als intelligent und geschickt erwiesen, wurden sie in den verschiedenen Fächern gefördert, sie lernten außer Rechtswesen und Religion, überwiegend Militär- und Verwaltungswesen, um später in allen Teilen des Reiches Aufgaben zu übernehmen. Das Angebot, als Hilfslehrer in der palasteigenen Schule war für mich zwar verlockend, ich wollte jedoch noch andere Länder im Osmanischen Reich sehen und andere Erfahrungen machen. So nahm ich eine Gelegenheit wahr, mich bei Muhiddin Pascha zu bewerben, der als Inspektor die westlichen osmanischen Gebiete und Enklaven bereiste, denn er suchte einen Sekretär. Ich hatte Glück und wurde angenommen. Er war ein gut ausgebildeter Mann mit scharfem Verstand. So reiste ich mit ihm und seiner 500 Personen umfassenden Begleitung, die aus Beamten, Dolmetschern, Offizieren, Soldaten und Köchen bestand, von Stadt zu Stadt im Balkan und in Ungarn. Der Auftrag unseres Sultan Murad III. war nicht außergewöhnlich sondern übliche Staatspolitik. Muhiddin Pascha und seine hohen Beamten hörten den Verwaltern der jeweiligen Gebiete zu. Diese waren selbst auch Pascha. Es wurden Vergleiche angestellt, ob die Berichte der Paschas mit der Lage der Bevölkerung übereinstimmten. Muhiddin Pascha ließ von seinen eigenen Inspektoren die Bücher der Verwalter überprüfen. Dafür gingen Muhiddin Pascha und seine Helfer zu den Märkten und Geschäften und in die Konaks, in denen die mittlere und gehobene Schicht der Bevölkerung wohnte. Auch wenn diese Menschen nicht so offen über ihre wirtschaftliche Situation und von Zufriedenheit oder Unzufriedenheit hinsichtlich der Verwalter offen zu reden bereit waren, gab es doch Mittel, Wünsche auf Abhilfe oder hinsichtlich einer Verbesserung festzustellen. Unsere Hauptaufgabe war es, herauszufinden, ob sie mit eigenen Mitteln zurechtkamen oder verschuldet waren. Es konnte vorkommen, dass eine Familie verarmte, wenn mehrere Jahre hintereinander durch harte Winter die Ernte ausblieb. Fast alle, denen wir zuhörten, verglichen vorsichtig die Lage mit früheren Jahren, obwohl sie selbst meist nicht die Zeit erlebt hatten, und wünschten, dass es mit ihrer wirtschaftlichen Lage besser werde. So war nicht zu übersehen und zu überhören, dass die wirtschaftliche Situation schlechter war, die Steuerlast war zudem gestiegen. Durch Kriege und Krankheiten war die Bevölkerungszahl insgesamt zurückgegangen. An den Grenzen des Reiches gab es ständig kleine Überfälle, was der Bevölkerung schadete. Ich gewann den Eindruck, dass die Situation nicht zufriedenstellend war. Die verwaltenden Paschas dieser Gebiete erhöhten die Steuer, sie waren strenger denn je, was auf die Dauer keinen Erfolg brachte. Paschas wurden wegen erfolgloser Arbeit oft abgesetzt, oder sie wurden zurückbeordert und in schlimmsten Fällen mit dem Tode bestraft. Zu Zeiten Sultan Murad III. hatte der Ämterverkauf zugenommen; erfolgreiche, unbestechliche Paschas und hohe Beamte wurden auf diese Weise zu Opfern. Ungerechterweise konnte niemand für sie dem entgegenwirken. Die Gepflogenheiten im Staate hatten diesen Verlauf genommen, weil die staatlichen Ausgaben höher waren als das durch Gesetze und Verordnungen gewährleistete Einkommen.

Diese Einblicke in die Zusammenhänge waren für mich von unschätzbarem Wert. Im Durchschnitt hielten wir uns in jeder Ortschaft einen Monat auf und wohnten in den Konaks der Verwalter, während unsere Begleitung in den festen Militärzelten untergebracht war. Ernährungsprobleme des gesamten Trosses hatten wir nicht aber vielerorts wurden wir Zeuge von Hunger und Elend unter der Bevölkerung, wo wir dafür sorgten, das die Wohlhabenden durch freiwillige Abgaben an die Armen deren Los milderte.

Die Bevölkerungsgruppen gehörten jeweils einer der drei Religionen an und lebten eng beieinander. Alle drei Religionen sahen vor, um Gottes Willen nicht nur an sich selbst sondern auch an andere zu denken, um seinen Bissen ohne Gewissensbisse schlucken zu können. Dennoch musste man diese Weisheit manchem vorhalten. Dieses Urgesetz der Menschen juckte längst nicht jeden; Erbarmen und Mitfühlen war nicht jedermanns Sache. Muhiddin Pascha mußte bei örtlichen Gerichten tyrannische Verwalten anklagen, über die viele Beschwerden vorlagen, wenn diese ihre Bauern und Knechte nicht gebührend versorgten. Die Verfahren führten häufig zu Geld- oder Gefängnisstrafen. Berichte über schwerwiegende Fälle wurden mit Sonderkurieren an die Hohe Pforte in Istanbul gesandt und hinsichtlich der gebotenen Vorgehensweise beim Großwesir um Rat gefragt. Es kam vor, dass die Schuldigen nach Istanbul vorgeladen wurden und in der Regel mit befristeten oder lebenslangen Strafen als Ruderer an Ketten auf Kriegsschiffen oder gar mit der Todesstrafe rechnen mussten. Ihr Vermögen wurde beschlagnahmt und ihre Familie und ihre Kinder wurden nur mit dem Allernötigsten versorgt, bis diese sich selbst versorgen konnten.

Als Sekretär Muhiddin Paschas hatte ich von allen Vorkommnissen zahllose Protokolle zu schreiben. In dem ein Jahr dauernden Aufenthalt habe ich viele Ortschaften gesehen und meine Menschenkenntnis geschärft. Was mir besonders auffiel, war die Vorsicht und die Beobachtungsgabe der Leute, die unterschiedlichen Religionen zugehörten, jedoch gelernt hatten, miteinander umzugehen. Sie schätzten nicht nur die eigenen Errungenschaften, sondern ließen auch die der anderen Menschen gelten, die einer anderen Religion angehörten und in anderen Sprachen redeten. Diese Menschen hatten Humor und konnten über sich lachen und soweit es ging, auch über die anderen, deren Sprachen sie gelernt hatten. Heiterkeit macht das Leben erträglich, Lachen verbindet.
Noch in der Fatih-Medresse hatte ich die lateinische Schreibweise füssig schreiben gelernt. Es war eine Umstellung für mich, nicht von rechts nach links sondern von links nach rechts laufend zu schreiben. Im Verlaufe des einen Jahres im Balkan probierte ich in Ansätzen Griechisch, Serbisch und Ungarisch zu lesen und zu schreiben. Es machte Freude, wenn ich mit Leuten ein Paar Worte in ihrer jeweiligen Sprache austauschte. Ich nahm mir vor, meine Sprachkenntnisse später zu erweitern.

Unsere Inspektion dauerte nur ein Jahr und war erfolgreich. Wir hatten, abgesehen von üblichen kleinen Krankheiten, keine wesentlichen Schwierigkeiten mit dem Tross gehabt, hatten alle Leute, von denen wir unseren Proviant kauften, zeitig und gerecht bezahlt. Selbst bei den örtlichen Verwalter-Paschas, bei denen wir anfänglich Gäste waren und deren Küche wir in Anspruch nahmen, bezahlten wir gerecht, obwohl das eigentlich so nicht üblich war. Nach ein Paar Tagen bauten wir immer unsere Wohn-, Schlaf-, Versorgung- und Küchenzelte auf, die wind- und wettersicher waren. Unter unseren Leuten waren nicht nur gute Köche sondern noch Schuhmacher, Näher, allerlei Handwerker und sonstige Soldaten, die nicht nur Umgang mit Waffen gelernt hatten.

Als das Jahr vorbei war, hatte ich genug gesehen und erlebt; ich war Zeuge, dass Muhiddin Pascha einer der wenigen Menschen war, der geduldig und gerecht war. Er war mir zum Vorbild geworden, da er um Gottes Liebe sein Leben lebte, wie die Osmanen zu sagen pflegen.

Als wir Anfang April 1585 in Belgrad zur Rückkehr nach Istanbul aufbrachen, hatte ich das Gefühl, in dem einen Jahr Erfahrungen, die andere in 10 Jahren erlangen, gemacht zu haben und war glücklich, weil meine Seele bereichert war. Ich hatte beeindruckende Landschaften, schöne Städte wie Sarajevo und Belgrad, Peç, Buda und zahlreiche andere große und kleine Städte gesehen, hatte Menschen erlebt, die mit den Schwierigkeiten im Leben versuchten, fertig zu werden und die einander vor allem in schwierigen Zeiten zu helfen wussten. Wir hatten an Hochzeiten, religiösen Festen und Trauerfeierlichkeiten aller Angehörigen dreier Religionen teilgenommen. Ich lernte den Umgang mit diesen Menschen schätzen, die fleißig, klug und großzügig waren. Es hat auch dumme, misstrauische und sture Personen gegeben und Menschen, die ihre wahren Absichten verbargen. Manche hatten Angst vor Unbekanntem. Das galt nicht nur in privaten Angelegenheiten, sondern in allen Bereichen des Lebens.

Ich hatte in dem Jahr auch die Erfahrung gemacht, dass selbst Tiere, insbesondere Pferde, Katzen und Hunde einen Menschen einschätzen konnten. In meiner langen Studienzeit in Istanbul hatte ich nicht allzu viel zu tun mit Mensch und Tier, ausgenommen an Feiertagen und Freitagen. Aber während des einen Jahres an der Seite von Muhiddin Pascha kümmerte ich mich selbst um mein Pferd, das er mir vor Beginn der Reise in Istanbul geschenkt hatte. Es war eine arabische Stute mit metallisch glänzendem Fell; sie hieß Zennure, übrigens ein seltener Frauenname.

Als wir wieder in Istanbul ankamen, unseren Auftrag erfüllt hatten und keine Menschenverluste zu melden hatten, waren wir sehr froh und überaus zufrieden. Ich war gut behandelt und bezahlt worden. Muhiddin Pascha fand für mich eine Stelle als Hilfslehrer in der Ayasofya Medresse. Ich wohnte ein halbes Jahr lang im Wohnheim der Medresse. Ich war mehrfach zu Gast bei der Familie des Kaufmanns Ratib Efendi und hielt schließlich um die Hand der Tochter Alevsun an. Einer Heirat stand nichts entgegen und ich heiratete Alevsun. So hatte ich Familienbande mit dem Kaufmann geknüpft, der mich von Buchara nach Istanbul einst in seiner Karawane mitgebracht hatte und sich um mein weiteres Leben kümmerte. Für meine kleine Familie mietete ich in der Nähe von der Ayasofya Moschee ein zweistöckigen Haus mit einem kleinen Vorgarten und einem größeren rückwärtigen Garten. Unser Haus ist vom Topkapi Palast nicht weit entfernt, deshalb hören wir jeden Morgen, nachdem die Morgengebetsrufe der Muezzine sich mit dem Morgenlüftchen davongemacht haben, die herzerfrischende Weckmusik der Mehter-Kapelle aus dem Garten des Topkapi-Palastes.

Zum Topkapi-Palast gehört auch die Musikschule, in welcher seit Jahrzehnten Musiker für Mehterkapellen ausgebildet werden. Diese Schule liegt unterhalb des eigentlichen Palastkomplexes in der Nähe der Stadtmauer am Marmarameer. Vom Meer aus hört man die Musikschüler außerhalb der Gebetszeiten musizieren und üben. Wenn ich dort in der Nähe auf einem Kayik fahre, geniesse ich die Musik, das leise Zischen des Kayiks, den Duft des Meeres und das Gesamtbild des Topkapi-Palastes mit den herrlichen Bäumen auf den Hängen hinter der Mauer. Es kommt mir vor wie eine Puppenspielbühne. Das erinnerte mich wiederum an ein Theater in Venedig, wo ich zwei Wochen lang im Auftrag Muhiddin Paschas bei den osmanischen Kaufleuten war, die dort ansässig sind. Im Theater wurde eine Familiengeschichte aufgeführt, die musikalisch begleitet war und deren Personen sogar sangen. Die Kaufleute erzählten mir, dass eine Theatertruppe vor einigen Jahren in Istanbul zu Gast war und unter anderem im Topkapi-Palast dem Sultan und dem Palastvolk ihre Kunst vorgeführt hatten. Von solch einer Aufführung in Istanbul hatte ich gar nichts erfahren, während ich in Istanbul war und die Künstlertruppe dort gastierte.

Mir gefiel die Aufführung in Venedig. Theater ist uns nicht fremd; Puppenspiel, Schattenspiel und Szenen zu zweit oder dritt, die offen in der Menge aufgeführt werden oder in Kaffeehäusern die Zuschauer unterhalten, sind mir vertraut. In Städten und Dörfern werden auch zu Hochzeiten Spiele ähnlicher Art vorgeführt. Doch in Venedig und anderen Städten gibt es inzwischen eigens dafür eingerichtete überdachte Häuser, in denen zu festgelegten Zeiten an Abenden von fest angestellten Schauspielern, von Männern und Frauen und je nach Bedarf von Kindern, Theateraufführungen mit und ohne Musik stattfinden. Ich hatte gehört, dass es überall in Europa und Asien viele nicht überdachte Theater mit steinernen Sitzen und Bühnen gegeben hat, in denen am späten Nachmittag und nach dem Sonneuntergang Spiele vorgeführt wurden. Zu Zeiten der antiken Völker und im Römischen Reich hatten diese Theater ihre Blütezeit, dann gerieten sie mit Beginn der Christianisierung auf Betreiben der Priesterschaft und durch Verbote in Vergessenheit. Bäume wucherten dort und allerlei Pflanzen. Die Bauten wurden vernachlässigt, wurden durch Erdbeben geschädigt, verfielen und wurden teilweise für den Häuserbau als Steinbruch genutzt. Die Kirche hielt von diesen Theatern nicht viel, weil sie glaubte, die christlichen Gläubigen streng erziehen zu müssen. Das gesamte Repertoir der Theater hatte aus Vorführungen von Stücken bestanden, die einst überwiegend aus der Mythologie schöpften und einen von Göttern wimmelnden Olymp als Fundgrube für Themen genutzt hatte und in dem die Götter sich recht menschlich und meist lächerlich unmoralisch benahmen oder aufmüpfige Frauengestalten in den Stücken das Publikum auf neue Möglichkeiten in der Beziehung zwischen den Geschlechtern hingewiesen hatten. Das war der prüden christlichen Priesterschaft zu sündig. Sie waren der Ansicht, es genüge, wenn die Gläubigen ihre Kirchen besuchten und dort den Pomp und die beeindruckende Heiligung des Brotes und des Weines im Weihrauchnebel erlebten.

Das Theatervolk lebte weiter als fahrendes Volk. Einige Jahrhunderte hat es gedauert, bis es überdachte Theaterbauten gab. Eine in kühlen Ländern sicher notwendige Errungenschaft, die letztlich auf Betreiben der wohlhabenden Bürger in den Städten auch den Weg zum bürgerlichen Publikum fand. Die Adeligen hatten sich schon längst eigene Theater und Musiker gegönnt und wetteiferten miteinander um die beste Ausstattung und die besten Künstler. Die Bürger in den Städten wollten es sich nicht nehmen lassen, eigene Theater zu haben, denn der Kirchenbesuch bot keine Möglichkeit, sich mit den gesellschaftlichen Themen aktuell auseinander zu setzen. Diesen Zweck kann nur die Bühne erfüllen.
Im Norden Westeuropas, außerhalb der westlichen Grenzen der Osmanen hatten Auseinandersetzungen zwischen Katholiken und Protestanten begonnen. Zwischen Staaten und Fürstentümern bereiteten neue Bündnisse künftige Kriege vor. Das könnte auf das Osmanische Reich Auswirkungen haben, auf die wir vorbereitet sein sollten. Unsere verantwortlichen Regierungs- und Verwaltungskreise werden neue Strategien entwickeln müssen, neue Bündnisse eingehen, die vorhandenen überprüfen und das osmanische Reich allseits und auf allen Ebenen stärken müssen. Muhiddin Pascha sammelte Informationen über diese neuen Erscheinungen in Europa. Wir sprachen mit Kaufleuten, die mit diesen Ländern ihre Geschäfte machten, selbst in diese gereist waren oder aus diesen Ländern aus politischen Gründen ins Osmanische Reich geflüchtet waren. Aber das alles reichte nicht aus. Während die großen Länder Europas in Istanbul Gesandtschaften und in den wichtigen Städten im Osmanischen Reich Vertretungen auf Dauer hatten, hielten wir Osmanen es nicht für nötig, in deren Ländern Gesandtschaften zu öffnen. Somit waren andere Mächte besser über uns informiert als wir über sie. Muhiddin Pascha diktierte mir alle diese Fakten, um sie Sultan Murad III. als dringlichen Hinweis vorzulegen.

Was mir selbst auffiel, war die Tatsache, dass außerhalb des Osmanischen Reiches die allgemeine Bildung gleichsam mit Riesenschritten vorankam, weil die gedruckten Bücher zu erschwinglichen Preisen gehandelt wurden. Informationen konnten auf gedruckten Zetteln und Plakaten vielfältig in Umlauf gelangen. Nicht einmal der Klerus konnte seine Privilegien schützen und sich auf das Latein oder auf das Griechische als Sprache der Kirche berufen, denn unter das Volk gelangten gedruckte Übersetzungen, so konnten auch diejenigen, die Lesen gelernt hatten, sich nun selbst Gedanken zum Inhalt der Heiligen Schrift machen, was dem Klerus der katholischen Kirche nicht behagte. Die Frauen gewannen durch diesen Wissensschub an Durchsetzungsvermögen, was sich bis in Familienstrukturen auszuwirken begann. Es wäre wünschenswert, wenn unsere Bevölkerung an diesem gesamten Wissensschub ihren Anteil hätte. Muhiddin Pascha, unbestechlich und der Zukunft zugewandt, frei von Machtgier und Habgier, hatte zu mir sehr bald Vertrauen, da ich meine Arbeit gewissenhaft und gut erledigte. Er hatte auch schon gegen aufständische Banden gekämpft, die im Osten des Osmanischen Reiches ihr Unwesen trieben. Es waren Banden, die sich vom einfachen Volk durch Zwangsabgaben unterhalten ließen und die Zentralmacht des Staates in Frage stellten ohne etwas Verträglicheres anzubieten. Gegen den Osmanischen Staat häufig kämpfenden Nachbarn kam das nicht ungelegen.

In Anatolien gibt es verbreitet islamisches Ordenwesen unterschiedlich strenger Gruppierungen. Die weniger strengen Orden werden gegen die überwiegend sunnitisch-muslimische Macht der Osmanen missbraucht. Kämpfer solcher Aufständischen und Räuberbanden werden zum Werkzeug der Machtinteressen ihrer Anführer. Sie merken zu spät, dass sie von Anführern verführte sind und zu Opfern werden. Als Gefolgschaft der Banden ließen Bauern häufig ihre Felder brach, die in der Regel nicht mal für ihre eigene Versorgung genug Ertrag abgeworfen hätte. Sie verkauften ihre wenigen Haustiere und zogen in die großen Städte in der Hoffnung auf ein besseres Auskommen. Städte sind kein Ort für Aufständische und Banden. Um auf Dauer in Städten leben zu können und ihre Bünde weiter zu erhalten, mussten sich Interessengruppen bilden und weiter entwickeln, um eines Tages sich selbst und die Anhänger versorgen und beherrschen zu können. Schaut man zurück auf die Geschichte der Völker, wird dieser Ablauf von Entwicklungen überdeutlich. Muhiddin Pascha war belesen und machte mich auf solche Zusammenhänge aufmerksam. Man brauche sich nur die Geschichte der Römer anschauen, die in den Ländern regiert hatten, die heutzutage zum Osmanischen Reich gehören. Oder man betrachte die Aufständischen um Spartakus, die sich gegen die Römer erhoben hatten, die ständig auf der Flucht vor den Verfolgern waren und auf Zufluchtsorte angewiesen waren, in denen Bauern und Städter zur Versorgung der Anhänger Hilfe leisteten. Wenn die Aufständischen und ihre Helfer nicht von Soldaten getötet wurden, gaben sie es irgendwann auf, sich gegen die Staatsmacht zu stellen. Aufstände werden über einen gewissen Zeitraum doch niedergeschlagen oder sie verlaufen im Sande der Entwicklung, war Muhiddin Paschas Meinung.

Er nahm immer auf solchen Auftragsreisen einen Teil seiner Bibliothek mit, um wichtige Bücher bei der Hand zu haben. Er unterhielt sich mit mir und fragte sogar nach meiner Meinung. Ich halte es für eine Ausnahme, dass ein Pascha mit seinem Untergebenen solche Sachen bespricht. Offenbar war sein Vertrauen in mich sehr gewachsen.

Diese Reisen waren für mich wie ein erweitertes Studium.

Wie sagt ein altes Sprichwort, "Nicht derjenige weiß viel, der lange lebt, sondern der, welcher viel gereist ist". Es gibt sicher auch Reisen, die durchgezogen werden, ohne irgendwelche Erinnerungen zu hinterlassen. Die Erfahrungen, die ich mit unserem fünfhundertköpfigen Tross und den Menschen in den jeweiligen Orten machte, bereicherten jedenfalls meine Persönlichkeit. Ich wurde geduldig im Umgang mit Menschen, erkannte Herzlichkeit und gezwungene Freundlichkeit, Angst oder Hingabe, Lüge oder Fakt, Freude, Trauer, Mitleid oder Schadenfreude, Empfindlichkeiten, Dummheit, Bosheit, Intelligenz, Habgier, Machtgier, Not, Hunger und Elend. Alle diese Sachen erlebte ich; es kam mir in meinen darauf folgenden Jahren als Lehrer zu Gute und war mir eine große Hilfe, als ich danach der persönliche Lehrer des Thronfolgers Ahmet, des späteren Sultan Ahmet I., war.

Ich arbeitete also zuerst als Hilfslehrer drei Jahre, dann als Lehrer bis zum Jahre 1595, knapp zehn Jahre lang in der Ayasofya Medresse und lehrte Geschichte, Mathematik, Religion und Literatur. Meine Schüler waren zwischen 14 und 18 Jahren alt. In den heißen Sommermonaten, wenn in der Medresse kein Unterricht stattfand, reisten die Schüler in ihre Heimatstädte oder wohin sie wollten. Es gab auch Schüler, die in Istanbul blieben und weiterhin in medresseeigenen Wohnheimen wohnten. Ich bereiste alle zwei Jahre mit dem Schiff die mir noch nicht bekannten osmanischen Gebiete. So besuchte ich die Inseln Rhodos, Kreta und Zypern, war auf der Halbinsel Krim, reiste nach Ägypten und nach Syrien. Ich sah andere Landschaften, Pflanzen und Tiere; ich begegnete Menschen, die im Kern nicht anders waren, als wir alle, sie unterschieden sich lediglich durch ihre Muttersprachen, was mir ja von Istanbul und von meinem Aufenthalt bei Muhiddin Pascha im Balkan nicht fremd war. Ich machte über interessante Begegnungen Notizen, um bei Bedarf darauf zurückgreifen zu können und mich zu vergewissern. Das finde ich heute noch richtig.

Als im Jahre 1595 Sultan Murad III. starb, folgte sein Sohn Mehmet III. auf den Thron. Wie das Gesetz es sanktionierte, ließ er als ersten Staatsakt seine 19 Brüder und Halbbrüder, alle im Kindesalter, mit Seidenschnüren erdrosseln, die sein Vater mit zahlreichen Frauen des Harems gezeugt hatte. Sieben Frauen seines Vaters, die gerade schwanger waren, ließ er vorsorglich töten. Seine siebenundzwanzig Stiefschwestern ließ er weiterleben. Dieses beschämende Gesetz überwand auch dieser Sultan nicht. Er ließ über eine Million Goldmünzen an seine Soldaten und Beamten als Thronbesteigungsgeschenk verteilen, denn das war üblich, und jeder erwartete dieses Geschenk.

Dieser merkwürdige Sultan betraute mich mit der Aufgabe, Privatlehrer seines fünfjährigen Sohnes Ahmet zu werden. Ich behielt meine Bedenken im inneren meines Herzens und nahm, weil ich seinem Befehl nicht widersprechen durfte, die Aufgabe an. Ich wurde Lala des Kindes. Meine heimlichen Bedenken waren schnell zerstreut, denn mein Schüler Ahmet war ein hoch intelligentes, sensibles, mitfühlendes Kind. Ich war inzwischen mit Kleinkindern vertraut, denn Ferihan hatte mir zwei Söhne und eine Tochter geboren, die inzwischen in einem Alter von drei bis sieben Jahren waren. Der Sultan schenkte uns ein Haus in der Nähe des Topkapi-Palastes. Unser zweistöckiges kleines hübsches Haus hat einen Vorgarten und hinter dem Haus einen Obst- und Gemüsegarten.

Im Thronfolgertrakt des Harems des Topkapi-Palastes nahm ich meine Aufgabe täglich vom späten Vormittag bis zum Spätnachmittag wahr. Ahmet wurde vom schwarzen Obereunuchen täglich dorthin gebracht und abgeholt. Zur Mittagszeit brachten Diener in Begleitung des Obereunuchen für uns beide Getränke und Speisen und wir beide verzehrten sie zusammen.

Ahmet und Mustafa, der ein Jahr jüngere Bruder des Ahmet, waren in Manisa geboren, wo ihr Vater Mehmet als Thronfolgerkandidat und Gouverneur, seinerzeit Staatsgeschäfte lernte und ausübte. Als Mehmet III. den Thron bestieg, wurden beide Söhne und ihre Mutter, die Sultanin Handan nach Istanbul zum Topkapi-Palast geholt. Drei Wochen später wurde ich Ahmets Lala. Der vierjährige Mustafa war für den Unterricht noch zu klein. Er blieb noch im Harem bei den Frauen.

Mein fünfjähriger Schüler Ahmet begrüßte mich am Tag unserer ersten Begegnung Anfang Februar 1595 mit den Worten "Willkommen mein Lala. Fühle dich wie in deinem Hause." In seinem Gesicht las ich Freude, Würde und vor allem die Neugierde auf das, was aus unserer Begegnung werden sollte. Offenbar war er sich dessen bewusst, dass für uns beide ein neuer Lebensabschnitt begann.

Ich merkte, dass er im Harem von seiner Mutter und den zuständigen Erzieherinnen bis dahin gut erzogen worden war.

Kapitel 6
Sultan Ahmet, erzählt:

An die erste Begegnung mit meinem Lala Mustafa Efendi kann ich mich sehr gut erinnern, obwohl inzwischen mehr als zwei Jahrzehnte, genauer gesagt, fast dreiundzwanzig Jahre vergangen sind. Ich war fünf Jahre alt. Es muss Anfang Februar 1595 gewesen sein. Auf den Dächern und im Garten lag eine Spanne hoch Schnee. Als ich meinen Lala willkommen geheißen hatte, schaute er mir in die Augen und sagte, "Lang lebe mein Schehzade; wir werden gemeinsam diese Welt erkunden, solange Ihr dies wünscht. Mein Wissen und Gewissen und meine Gebete werden Euch immer begleiten." Diese Worte habe ich noch im Ohr, als sei es gestern gewesen. Ich hielt meinen Atem an und machte dem schwarzen Obereunuchen, ein Zeichen. Er verließ den Raum. Dass einem Thronfolger jemand, und sei es sein Lehrer in die Augen schaut, ist nicht angebracht, hatte ich bis dahin gelernt. Ich ließ es jedoch geschehen und ließ mir nichts anmerken. Ich fragte meinen Lala, "Mögt Ihr auch Schnee? Habt Ihr schon viel Schnee gesehen?" Daraufhin erzählte mir mein Lala von seinen Reisen im Balkan und beschrieb die schneebeladenen Winterlandschaften. Auch in seiner usbekischen Heimat auf den hohen Bergen um Buchara lag im Winter Schnee, erzählte er. Wenn irgendwelche Zusammenhänge zu meinem Leben bestanden, erzählte mir mein Lala nach und nach aus seiner Kindheit, um die ich ihn beneidete. Denn hier im Topkapi-Palast ist die Welt frei von Nöten jedoch räumlich eng und zum Leben außerhalb des Palastes hatte ich keine Beziehung. Von da an nahm mich mein Lala jede Woche einige Male mit, so konnte ich den Palast verlassen und in Begleitung die Stadt Istanbul ansehen. Mein Lala und ich wurde in schlichte Kleidung gekleidet. Ein Dutzend ebenfalls verkleidete Schutzpersonen begleitete uns unauffällig bei diesen Besichtigungen des Alltags in Istanbul. Mein Lala hielt dabei meine Hand, als sei ich sein Sohn oder ein Verwandter. Manchmal wurde ich müde, weil ich noch so klein war und da hat er mich für eine Weile auf dem Arm getragen. Ich verhielt mich wie ein kleiner Istanbuler Knabe, fühlte aber dennoch den Unterschied, denn ich tauchte als Istanbuler Knabe nur zum Schein in die Alltagswelt. Wir besichtigten den bedeckten Basar, von dem als Kapalitscharschi immer aus aller Munde zu hören war. Ich glaubte meinen Augen nicht, dass es so etwas gibt. Wir konnten unmöglich alles von diesem Basar sehen. Das wäre für ein fünfjähriges Kind, wie ich es war, erdrückend viel. So beschränkten wir uns auf die Hauptstrassen und einige Seitenstrassen. Mein Lala beschrieb die Größe des Basars. Wir durften sogar eine Stiege hinauf gehen und konnten auf das Dach mit den vielen Kuppeln, die mir wie eine Landschaft aus Blei mit riesigen Hügeln vorkamen, denn ich war noch so klein. Der Bazar faszinierte mich. Verkaufsgeschäfte für alle erdenklichen Waren breiteten ihren Glanz aus, Soldatenrüstungen, Blasinstrumente und Zimbeln, Glöckchen und Becken aus Messing schimmernd wie Gold. Düfte aus den Parfum- und Gewürzläden strömten mir entgegen. Mädchen und Knaben an der Hand ihrer Mütter und Väter strömten vorbei und ich merkte, dass die Kinder genauso glücklich waren, wie ich, dass sie in diesem Basar alles ansehen konnten und wo es so viel zu kaufen gibt: Puppen, Spielzeug, Schattenspielfiguren aus Kamelhaut, und Puppenspielfiguren, die ich vom Palast kannte. Hier waren viel mehr Schattenspielfiguren und Puppenspielfiguren, die ich noch gar nicht kannte. Ich sprach später mit den Vorführern dieser Spiele im Palast, beschrieb ihnen, was ich alles gesehen hatte und was mir besonders gefallen hatte.

Später ging ich mit meinem Lala bei diesen Stadtbesichtigungen sehr gerne auch zu kleinen Garküchen in Tahtakale. Bei denen gab es viele kalte Gerichte wie mit Reis, Pistazien und Kräutern gefüllte Weinblätter, die mit Olivenöl gekocht und mit Zitronensaft beträufelt kalt gegessen werden.. Davon aß ich gern, denn im Topkapi-Palast werden in der zentralen Küche so gut wie nie Dolma gemacht; wenn überhaupt, dann nur für den Sultan selbst und seine engsten Angehörigen und das ganz selten, weil es für die Masse Menschen im Palast viel Arbeit macht. Kalte Gerichte, müssen nach dem Garen auskühlen, was viel zusätzlichen Platz erfordert und die Speisen können schnell verderben.

Tahtakale, das Geschäftsviertel Istanbuls ist ein bezaubernder Ort, der sich unten vom Goldenen Horn bis zum bedeckten Basar erstreckt. Tahtakale nimmt eine Fläche ein, die vermutlich mehrfach größer ist als die Gesamtfläche des Topkapi-Palastes mit den Gärten zusammen. Am meisten amüsierte mich der Name "Tahtakale". Ich fragte meinen Lala schon beim ersten Besuch dieses Stadtteils, wo denn diese "Holzburg" sei. Mein Lala sagte mir, dass damals die Araber, die mehrmals vergeblich versucht hatten, die Stadt, die damals noch Konstantinopel hieß zu erobern. Sie hatten dem Bereich den arabischen Namen "Taht-al Kal'a", gegeben. Es könne aber auch sein, dass die damals seit Generationen ansässigen arabischen Kaufleute dieses Geschäftsviertel so nannten. Die Bedeutung sei im Arabischen "Unter der Burg" und die Türken hatten daraus "Tahtakale" gemacht, was nun jeder sich als Holzburg leicht merken könne, obwohl von einer Holzburg keine Rede sein könne, da es in diesem falle eine Wortschöpfung sei. Das machte mir Spaß. Ich bewunderte meinen Lala, weil er für alles eine Erklärung wusste. Ich wollte sehr viel von ihm lernen. Wir gingen ans Goldene Horn um am Hafen zu spazieren und ich schaute mir alles an, sah die schnellen Ruderboote, die zwischen beiden Ufern wie Weberschiffchen hin und her flitzten, und wieder andere, die Fahrgäste bis auf die andere Seite der Meerenge über das Marmarameer brachten. Die Boote waren sehr leicht, flach und schnell. In manchen saßen mehrere Ruderer. Vor den Weinlokalen am Fischmarkt unten am Goldenen Horn duftete es lecker nach frisch zubereiteten Speisen der warmen Küche und nach Kräutern. Geschäftige Kaufleute waren dort und Matrosen aus allen Teilen der Erde. Lastenträger trugen hoch aufgebürdet und verschnürt allerlei Waren auf ihren Tragesatteln. Ich hörte die Geräusche der Handwerker aus mehr als hundert Werften am Goldenen Horn, wo die Handels- und Kriegschiffe gebaut oder ausgebessert werden. Unten am Ufer aßen wir gebratene Fische mit Zwiebeln und Kräutern, die ins aufgeschnittene Brot gesteckt wurden. Das schmeckte mir mehr als alles, was ich bis dahin gegessen hatte. Die Welt war wunderschön, so blank und duftend, so vielfältig klingend. Das machte mich glücklich.

Wenn wir mit unseren Besichtigungen fertig waren und wieder vor dem großen Gartentor des Topkapi-Palastes standen, verabschiedete ich mich leise von meiner schönen Stadt und versprach ihr, bald wieder zu kommen. Anfänglich konnte ich nachts erst sehr spät einschlafen, weil Istanbul in meinem Kopf spazieren ging.

Lala Mustafa ist ein Mensch, den alle, auch mein Vater Sultan Mehmet III. und meine Mutter, die Sultanin Handan sehr schätzten. Mit Vorbehalt kann ich auch meine Großmutter, die Sultanin Safiye dazuzählen; bei ihr wusste niemand, woran er war. Am meisten liebte sie zu ihren Lebzeiten das Anhäufen vom Privatvermögen, mit dem sie ein ganz großes Bauvorhaben verwirklichen wollte. Zu diesem Zweck hatte sie eine Stiftung gegründet wie viele Vorgänger und Vorgängerinnen in unserem Reich. Ziel des Vorhabens war die Errichtung eines ganzen Komplexes mit Moschee, bedecktem Basar, Schule, Krankenhaus, Armenküche, Wohnhäusern für Bedienstete dieser Einrichtungen und einem Mausoleum für sich, das ihr den Nachruhm sichern sollte. Ihre Verwalter hatten am Goldenen Horn gegenüber Galata die Fundamente gelegt. Das Geld war meiner Großmutter Sultanin Safiye ausgegangen, weil sie unerwartet früh verwitwet war und ihr die Einkünfte aus dem Palast und durch Ämterverkauf entzogen waren. Nun ist sie längst verstorben und es wächst Gras auf den Fundamenten.

Ich machte mir damals Gedanken, wie ich einst, wenn ich Sultan würde, Ämterverkauf und Korruption würde eindämmen können und ob ich es wohl je verhindern können würde. Ich sah gewiss schweren Zeiten entgegen, in denen ich auch unbeliebte Entscheidungen würde treffen müssen.

Schon als fünfjähriger Knabe empfand ich, dass mein Lehrer Mustafa Efendi ein Glück für mich war.

Als ich bereits etwas älter war, ich muss wohl etwa sieben Jahre alt gewesen sein, sagte ich eines Tages, als wir von einer Stadtbesichtigung, verkleidet wie immer, zurückkamen und vor der Ayasofya Moschee standen, leise nur für meinen Lala vernehmlich, damit keiner der verkleideten Begleiter etwas hören konnte: "Lala, wenn ich eines Tages Sultan bin, werde ich gegenüber dieser Ayasofya Moschee, wo jetzt Villen von einigen Paschas stehen, eine ganz große Moschee mit sechs Minaretten mit sämtlichen dazu gehörigen Bauten errichten lassen." Während ich das sagte, schaute ich auf und blickte ihm in die Augen. Da sagte er: "Gott schenke Eurem Vater Sultan Mehmet ein langes Leben. Wenn Allah eines Tages ihn zu sich nimmt und Ihr Sultan werdet, werden sicher viele Eurer Wünsche wahr." Ich vergaß mit der Zeit, was ich so kindlich hingeplaudert hatte.

Längst hatte ich von meinem Lala Lesen, Schreiben und Rechnen gelernt. Ich lernte aus Büchern vieles über Landschaften, Klima und Menschen auf dieser Erde. Mein Lala beantwortete meine Fragen, wenn er die Antworten wusste. Ansonsten bekam ich Bücher von der Palastbibliothek und von der Bibliothek bei der Ayasofya, die ich auch einmal von innen gesehen hatte. Ich war sehr beeindruckt. Umgeben von hohen Bücherregalen, in denen alles Wissen versammelt ist, welches von den Wächtern der Bücher betreut und gehütet wird, sitzen Menschen aus unserer Stadt und unserem Reich und aus fernen Ländern, die still in den Bänden studieren und ausgerollte Dokumente lesen.

In späteren Jahren, als ich neun oder zehn Jahre alt war und über genügend Kräfte für lange Spaziergänge verfügte, besichtigten wir zweimal in der Woche an Nachmittagen jeweils drei bis vier Stunden lang die Umgebung an der Stadtmauer. Anfang Frühjahr hatten wir mit unserer Erkundung begonnen und sie bis zur Mitte des Sommers abgeschlossen. Dabei hatten wir die gesamte Stadtmauer von Istanbul von innen und von außen besichtigt. Manchmal hatten wir in unseren Bündeln Obst mitgenommen und tranken von Stadteilbrunnen gutes Wasser, wenn wir durstig waren. Einige Male aßen wir auch Speisen in Garküchen in den Geschäftsvierteln und ich wählte mir Speisen aus, die mir im Palast nicht serviert wurden. Da gab es Köstlichkeiten, die herrlich schmeckten und mein Lala warnte mich vor den Folgen, dieses mache Winde und jenes sorge für Ausdünstungen durch die Haut, wieder etwas anderes schwemme den Körper auf und die herrlichen süßen Genüsse seien im Übermasse ungesund. Wir sprachen mit allerlei Menschen, die uns begegneten. Wenn Leute neugierig waren, wer wir denn seien, sagte mein Lala, er sei Lehrer an einer Medresse und ich sei sein Lieblingsenkel aus Konya, dem er Istanbul zeige. Das konnte stimmen. Altersmäßig käme es hin. Es gibt sehr viele Männer, die schon mit vierzehn oder fünfzehn Jahren heiraten. Sie leben weiter bei den Eltern des jungen Mannes. Und wenn ich an meine Heirat denke, habe ich sogar bereits im Alter von 13 Jahren meine Mahfiruz geheiratet.

Jedenfalls lernte ich einigermaßen Istanbul und die Bevölkerung kennen, so gut wie ein Reisender es kann. Mein Lala deutete an: "Menschen und alles Lebendige unter dem Himmel, Landschaften und Pflanzen kann man erst kennenlernen, wenn man mit ihnen durch mittelbaren oder unmittelbaren Anlass zu tun hat. Sonst beruhen die Äußerungen, die man kundtut auf vorgefassten Meinungen oder Vermutungen." Ich nahm mir vor, mit meinen Meinungen nicht voreilig zu sein. Auf einem Spaziergang sah ich hoch über uns einen großen Vogel kreisen, den ich bis dahin noch nicht gesehen hatte. Es sei ein Adler, ein Raubvogel, der Hasen und anderes Getier jage, denn er ernähre davon sich und seine Jungen. Es sei eine Art Gesundheitswächter, denn der Adler sorge dafür, dass zu schwaches oder krankes oder schädliches Getier, welches im Übermaß vorkommt, vertilgt werde. Der Adler hat starke Fänge und einen kräftigen Schnabel und fliegt so hoch, dass er von oben mit seinen scharfen Augen die kleinste Regung auf der Erde bemerkt und sich gleich auf die Beute stürzt. Dieser Raubvogel sei ein Symbol für Staatsmacht nicht nur im osmanischen Reich sondern seit Jahrhunderten auch bei anderen Völkern. Ich könne den Adler mit unseren Elitetruppen und Sicherheitsorganen vergleichen, die in unserem Staate für Ordnung sorgen. Unsere Spaziergänge sind mir unvergesslich.

Mein Vater weilte lange Zeit im alten Palast in Edirne und ging dort seinen Staatsgeschäften nach, empfing Gesandte aus westlichen Nachbarländern und die obersten Verwaltungsbeamten aus Ländern, die unter osmanischer Verwaltung standen. Er verbrachte seine Zeit mit der Jagd in den Wäldern um Edirne und liebte das Reiten. Als er wieder einmal lange fort war, bat ich meine Mutter, die Sultanin Handan, eine Nacht bei der Familie meines Lala verbringen zu dürfen, die in der Nähe unseres Palastes wohnte. Meine Mutter erlaubte mir das nicht. Sie könne diese Verantwortung nicht übernehmen, nur mein Vater dürfte so eine Erlaubnis erteilen, meinte sie. Ich durfte jedoch die Familie meines Lala besuchen und bis zum Beginn des Abends bleiben. Also besuchte ich an einem Nachmittag die Familie meines Lehrers Lala Mustafa Efendi. Der für mich verantwortliche Obereunuch hatte mich wie immer verkleidet und, ohne Aufsehen zu erwecken, mit meinem Lala zu dessen Haus gebracht und blieb auch die ganze Zeit während des Besuches bei uns. Mein Lala wohnte mit seiner Familie in einem Haus umgeben von einem Garten. Die Frau meines Lehrers und ihre Dienerin, eine schwarze hübsche junge Sklavin, empfingen mich, meinen Lala und den Eunuchen vor dem Hauseingang im Vorgarten. Mein Lala stellte mir seine Frau mit ihrem Namen vor und ich wollte Alevsun Hanim die Hand küssen, wie es sich für einen Knaben aus dem Volke schickte, als der ich ja verkleidet war. Sie reichte mir nicht die Hand, strich aber sanft über mein Haar und sagte, "Möge der Allmächtige unserem Schehzade ein langes, glückliches Leben schenken." Die schwarze Dienerin, die etwa vier oder fünf Jahre älter war als ich, ich war wohl etwa zehn Jahre alt, neigte ihren Kopf und kreuzte die Arme über ihrer Brust, die sich vor Aufregung heftig in ihrer Weste aus besticktem Samt hob und senkte. Ich erinnere mich sogar noch an den Namen der dunklen Dienerin. Sie hatte ein hübsches Gesicht und hieß Feride.

Alevsun Hanim und Feride haben uns eine Leckerei angeboten, die sie selbst vorbereitet hatten. Es war Tulumba Gebäck mit Zuckersirup. Sicher hatte mein Lala erzählt, dass ich gern Süßes aß. Ich ließ mir beschreiben, wie sie es gebacken hatten. Sie zeigten mir die Küche und ich sah alle die Gerätschaften, die in einem Haushalt in der Küche benutzt werden. Sie zeigten mir den Spritzbeutel, mit dem das Gebäck gespritzt worden war. Das Gebäck habe den Namen zu Ehren der vielen Freiwilligen der Feuerwehr, welche durch Pumpen die Spritzschläuche mit Wasser versorgen. Das gespritzte, fingerlange Gebäck werde schwimmend in heißem Öl ausgebacken. Nach dem Erkalten legt man es in einen parfümierten Zuckersirup, in dem das Gebäck Saft zieht. Mir war schmerzlich bewusst, dass ich wohl nie in meinem Leben solch ein einfaches Vergnügen würde haben können wie selbst Essen kochen oder Backen; Haus und Garten behagten mir sehr, weil beide nicht so ermüdend waren wie der riesengroße Palast und der Palastgarten. Ich hatte gehofft, den Kindern meines Lehrers begegnen zu können, leider waren sie an dem Tag nicht zu Hause, weil sie einige Zeit bei ihren Großeltern mütterlicherseits in Bursa zu Gast waren.
Alevsun Hanim war eine sehr hübsche Frau, eigentlich so schön wie meine Mutter, die Sultanin Handan. Sie war ebenso groß und schlank wie meine Mutter. Ihre Augen waren honigfarben und geheimnisvoll und ihr Haar war kastanienbraun.
Im Obstgarten pickten zwei Perlhühner nach Grünem und nach Käferchen und Samen. Ihr schwarzes Gefieder war übersäht mit weißen Tupfen. Sie sahen entzückend aus. „Die heißen Inci und Boncuk," sagte Feride. Ich musste lachen. Zwei Perlhühner, eines trägt den Namen einer kostbaren Perle und das andere den Namen einer Glasperle. Ich fragte meinen Lala, wie diese lustigen Perlhühner zu ihrem Namen gekommen seien. Da erzählte er mir, dass er mit osmanischen Offizieren im Auftrage Muhiddin Paschas unterwegs war, um einen Sklavenaustausch auszuhandeln. Es wurde eine Vereinbarung zum Tausch von Rudersklaven getroffen, nämlich hundertzwanzig osmanische Gefangene, die auf dem Genfer See ruderten gegen dreihundert Gefangene, die auf osmanischen Galeeren ruderten. Bis es zum Austausch kam, verstrich ein halbes Jahr. Es vergingen weitere Monate und dann brachte einer der Befreiten, der ein osmanischer Offizier war, zwei Perlhühner und einen Hahn als Dank. Er habe keine Schätze, um seiner Dankbarkeit Ausdruck verleihen zu können, sagte er. Statt Perlen könne er nur Perlhühner bringen, dass sei in etwa so, als schenke er Glasperlen. Ich möge um Allahs Willen dieses bescheidene Geschenk annehmen. Ich fand seinen Einfall herzerfrischend und deshalb habe ich die Hühner und den Hahn angenommen. Die Perlhühner sind nicht mehr dieselben, die ich damals bekommen habe, aber die Hühner und der Hahn sorgen für Eier, aus denen wieder neue Perlhühnchen oder Hähnchen schlüpfen können. Eine Weile haben wir Eier, weil wir die Perlhühner um ihre Eier betrügen. Wir legen ihnen ein Ei aus Gips ins Nest, dann glauben sie, sie müssten gleich noch ein Ei dazu legen. Den Hahn lassen wir nur zu den Hühnern, wenn wir neue Hühnchen und Hähnchen aus Eiern ausbrüten lassen wollen. Ohne Hahn würden aus den Eiern keine Küken. Der Hahn muss auf das Huhn springen und sein Schnippelchen in das Ritzelchen hineinstecken, erst dann können aus den gelegten Eiern Hühnchen- oder Hähnchenküken werden. Ich wollte gleich wissen, wie denn die harten Schalen in die Hühner kämen. „Nun", meinte mein Lala," wenn man ein Huhn schlachtet, findet man im Bauch die Eier bildenden Organe und man sieht auch, dass erst nur klitzekleine Dotter da sind." Im Topkapi-Palast wurden meinem Lala und mir immer fertige Speisen serviert. So würde ich nie wissen, wie ein Huhn innen aussieht. Ich wollte mir bei nächster Gelegenheit ein Huhn schlachten lassen und in ein gerupftes Huhn schauen, dass ich selbst aufschneiden wollte. Mein Lala versprach mir, demnächst ein Huhn im Unterricht gemeinsam zu öffnen und nachzuschauen, wie die Organe im Körper aussehen. Nun aber solle ich mir vorstellen, dass zuerst, wenn der Hahn auf das Huhn springt und seine Samen durch sein Schnippelchen in das Ritzelchen eindringen, diese Dotter besamt werden, erst danach bildet sich das Eiklar und die Hagelschnüre und ganz zum Schluss entsteht die Schale, die das Ei beim Legen schützt, wenn das nicht so wäre, würde das Ei beim Legen zerdrückt. Ich war fasziniert. Ich dachte ans Schnippelchen vom Perlhähnchen und dachte über mein eigenes Schnippelchen nach, derweil mein Lala von leckeren Perlhuhnessen schwärmte. Wie mein Leben wohl aussehen würde mit Sklaven, mit Palast und mit meinem Schnippelchen. Andere Prinzen waren bisher schon in dem Alter an ihrem Schnippelchen beschnitten, ich hatte das noch vor mir. Meine Überlegungen besprach ich mit meinem Lala. Er sagte: "Die Menschen tun zu allen Zeiten immer das, was sie tun können. Es kommt auch vor, dass sie tun, was sie eigentlich gar nicht wollen. Sicher wird auch Eure Zeit kommen, Entscheidungen zu treffen und manches zu tun und manches nicht zu tun, weil Ihr zu der Erkenntnis gekommen seid, dass es Euch obliegt, die richtige Wahl zu treffen und die liegt in der Verantwortung."

Ich hatte meinen Lala gern. Das Haus meines Lehrers duftete nach Pinienholz, weil die Wandschränke aus diesem Holz gebaut waren. Ich genoss es, Gast in diesem Hause zu sein. Leider brachte mich der Obereunuch am späten Nachmittag wieder in den Palast zurück.

Einige Tage lang gingen mir alle möglichen Gedanken im Kopfe herum. Als ich wieder einmal mit meinem Lala von einem Spaziergang außerhalb des Palastes zurückkam und mit ihm auf dem Platz vor der Ayasofya Moschee ein wenig ausruhte, sah ich mir diese Moschee genauer an. Das heilige Bauwerk hatten die Christen gebaut, es war der mächtigste Bau, den die Christenheit zur Ehre Gottes und zum Ruhme von Konstantinopel errichtet hatte. Nach der Eroberung der Stadt durch die Osmanen hatten meine Vorfahren den Bau geschützt und in eine Moschee verwandelt, die Mosaiken mit Putz und Tünche abdecken lassen, die christlichen Altäre entfernt, eine Gebetsrichtung nach Mekka vorgegeben, die Moschee mit Teppichen ausgelegt, vier große Schriften zum Ruhme des Allmächtigen oberhalb der Hauptsäulen montieren lassen und Minarette hinzugefügt. In dieser Moschee wurde Gott gepriesen, hieß Allah und aus dem Gottessohn war der Prophet Isa geworden, weil aus islamischer Sicht Gott unteilbar ist und keinen Sohn gezeugt haben kann, da er abstrakt ist. Die gnostische Auffassung, die der christlichen Trinität zu Grunde liegt, hatte mir mein geistlicher Lehrer erläutert, der mich mit religiösen Themen vertraut machte; das gehörte zu meiner Ausbildung. Allgemeines Wissen, Strategie und Verwaltungswissen waren aber ständig mein Unterrichtsstoff , dafür war mein Lala zuständig, der jeweils die passenden Personen auswählte und mit ihnen gemeinsam dafür sorgte, dass ich die beste Ausbildung als Thronfolger erhielt.

Ich dachte also daran, dass durch diesen Bau von der Vergangenheit ein Stück geblieben war, etwas, dass man mit Händen greifen konnte. Menschen, die an dem Bau der Ayasofya mitgewirkt hatten, Erbauer, Architekten, Maurer, Arbeiter, zahllose Handwerker, die dieses oder jenes schufen und lieferten, hatten hier Einmaliges hinterlassen, das jeden beeindruckte und im Betrachter Dankbarkeit und Lob erzeugte.

Ein Regent kann Münzen prägen, er kann gute Gesetze machen und sich für das Wohl der Menschen einsetzen, aber das sind nicht die Werte, die einen Staat repräsentieren und mit denen sich die Bevölkerung identifizieren kann. Ein Bauwerk hingegen, in dem der gläubige Muslim Allah preisen kann, in dem er betet und wandelt und die Schönheit der Baukunst bewundern kann, ein Bauwerk, welches auch Menschen aus aller Welt besichtigen würden, welches die Architekten in aller Welt rühmen würden, wäre sicher der beste Weg für einen Sultan, seinem Volk ein Werk zu schenken. Kein Sterblicher nimmt etwas mit sich ins Grab, er kann aber etwas hinterlassen, für das ihn die Nachwelt schätzt und ehrt.
In jener Nacht schlief ich unruhig und im Traum sah ich Handwerker, die für den riesigen Gebäudekomplex einer Stiftung mehrere Fundamente ausgruben. Ich konnte im Traum nicht ausmachen, wo dieses Bauvorhaben war, hatte aber das Gefühl, es müsse in Istanbul sein. Ich kannte ja sonst kaum eine andere Stadt außer Manisa, wo ich geboren war und an die ich mich kaum erinnern konnte. Außerdem wehte im Traum von irgendwoher ein wenig Meeresduft. Es musste also Istanbul sein. Der Traum blieb mir im Gedächtnis und ich behielt ihn für mich, bis die Zeit reif sein würde.

Kapitel 7
Der Oberarchitekt des Topkapi-Palastes, erzählt:

Mich, Sedefkar Mehmet Aga, den osmanischen Baumeister, beauftragte unser Sultan Ahmet I. mit den Plänen eines Külliye-Bau-Komplexes am Rande des At Meydani, des Platzes des einstigen Hippodroms, gegenüber der Moschee Ayasofya. Das kam so. Es war Anfang Frühjahr 1606, an einem Freitag-Nachmittag. Der siebzehnjährige Sultan war seit drei Jahren auf dem Thron. Wir besprachen in Anwesenheit seines Lehrers Lala Mustafa Efendi die Idee des Sultans und ich wurde beauftragt, Pläne für den Abriss einiger auf dem Gelände befindlichen Pascha-Villen zu erarbeiten, Entwürfe für das gesamte Projekt zu liefern und so bald als möglich mit der Ausschachtung und Grundsteinlegung zu beginnen. Ich bat den Sultan um sechs Wochen Zeit. Das war zwar sehr knapp, aber ich hatte mir selbst schon für diese Stelle, die in der Tat anders aussehen könnte, während meiner Jahre in Istanbul Gedanken gemacht. Es würde mir nicht schwer fallen, in der knappen Zeit mir alles genauer anzuschauen, Vorbereitungen für den Abriss und die Ausschachtungen zu treffen und die Entwürfe auszufertigen. Ich machte die notwendigen Rohentwürfe und ließ meine Helfer unter meiner Leitung die genauen Pläne ausfertigen. Die Pläne gediehen zügig. Ich hatte einige Skizzen von bisher gebauten Kuppelbauten und ihrer jeweiligen Konstruktion zur Erläuterung gezeichnet, damit der junge Sultan meinen Gedanken leichter folgen und das Neue an diesem Bauprojekt erkennen und zu würdigen wissen werde. Das Projekt war eine enorme Herausforderung. Es würde die größte Kuppel werden, die bautechnisch möglich wäre. Das Bauprojekt mit Zeichnungen in Ansicht, in Ebenen und Aufriss mit allen zugehörigen Anlagen der geplanten Külliye legte ich vor. Ich hatte sogar an ein kleines Schlösschen gedacht, welches angrenzend an die Moschee dem Sultan zur Ruhe nach dem Freitagsgebet dienen könnte und in dem er Untertanen empfangen könnte. Der junge Sultan war nach meinen Erläuterungen und den guten Plänen überzeugt, dass dieser Bau seinen Wünschen entsprechen werde und fragte, wie ich mir die Ausgestaltung denke. „Wenn Eure Hoheit sich vorstellen könnten, mitten in einer blauen Perle zu stehen. Diese Wirkung möchte ich durch schimmernde glasierte Wandkacheln, die über und über mit blauen Mustern überzogen sind und mit einem Spruchband in der heiligen Schrift des Koran am oberen Rand abschließen, erreichen. Oben in der Kuppel dürfte als Ornament eine kunstvoll gemalte Schrift aus dem heiligen Koran um die Mitte zirkular geschrieben zur Ehre des Allmächtigen stehen, wenn dieses im Einklang mit den Wünschen Eurer Hoheit ist." Dieses sei die Wirkung und die Stimmung, die er sich für dieses Bauwerk wünsche, sagte Sultan Ahmet und erteilte den Auftrag für den Baubeginn.

Palasteigene Maurer und Maurer und Handwerker für die verschiedenen Bereiche von anderswo wurden von mir und meinen Helfern ausfindig gemacht und für die jeweiligen Arbeitsphasen an den Bauten im Voraus beauftragt. Was mir auch sehr wichtig war, waren die Kachelarbeiten und Perlmuttintarsien für die Bauten. Schmuckstück des gesamten Gebäudekomplexes sollte die Moschee sein, für deren Wandverkleidung rundum spezielle Kacheln aus Iznik erforderlich waren und deren Türen und Fensterklappen aus mit Perlmuttintarsien verziertem Edelholz bestehen sollten. Die Fenster aus farbigem Glasornamenten sollten in Gipswerkstätten gearbeitet werden um die Lichtwirkung der Gebetswand freundlich aufzulockern. Nach außen sollten die Fenster jedoch durch klare Scheiben geschützt sein.

Während die Fundamentarbeiten voran kamen, waren zweitausend Arbeiter beschäftigt, unter denen auch einige hundert Kriegsgefangene waren, denen versprochen worden war, sie könnten auf diese Weise als Sklave für ihre Freilassung arbeiteten. Ich erteilte die notwendigen Aufträge und fuhr mit meinen Helfern nach Iznik, um die Kachelwerkstätten zu besichtigen. Während unseres eine Woche dauernden Aufenthalts in Iznik, errechneten wir die notwendige Menge an Kacheln und bestimmten die Muster. Alle guten, leistungsfähigen Werkstätten, insgesamt fünfzehn an der Zahl, mussten sofort mit den Vorbereitungen und der Herstellung der benötigten Kacheln beginnen. Sie sollten nebenbei ihre bereits bestehenden Aufträge für Stiftungen und amtliche Gebäuden zu Ende führen aber keine neuen Aufträge annehmen, da sämtliche Kräfte unserem großen Auftrag zu dienen hatten und sie zusätzliche Aufträge ohnehin nicht würden bewältigen können. Ich hatte mir in allen Werkstätten sämtliche verfügbaren Kachelmuster zeigen lassen und neue Zeichnungen, die Istanbuler Motivkünstler und ich teilweise angefertigt hatten, in Auftrag gegeben. Die Farbe Blau in den Motiven ist dominant, wie es den Wünschen unseres Sultans entsprach.

Die Perlmuttintarsien wurden überwiegend in palasteigenen Werkstätten in Istanbul aufgenommen. Ich selbst hatte in der Handwerkerschule für Tischler die Feinschneiderei und Perlmuttintarsien ausführen gelernt und war durch meine Leidenschaft für Perlmuttarbeit ein Meister in meinem Fach. In meinem zweiten Beruf als Baumeister nannte man mich dann „Sedefkar", was Perlmuttmeister heißt und für mich eine große Ehre ist. In der Tat war jedes Stück Perlmutt, das aus den warmen Meeren dieser Erde kam, für mich nicht weniger Wert als teurer Edelstein in blau, grün, gelb, rot und in sonstigen schillernden Farben. Perlmutt bedeutete mir mehr als geschliffene Diamanten. Steine kommen aus dem inneren der Erde. Perlmutt ist die Hülle der Schnecken, ein Stück vom Leben. Daher sah ich Perlmutt als einen Teil des Ganzen. Perlmuttschnecken und Perlmuscheln wurden nicht an den Stränden der warmen Meere gefunden, sondern von Tauchern aus den Tiefen der Meere von Felsen gerissen. Das Tier darin wird herausgenommen und verfüttert. Taucher, Händler und Handwerker verdienten daran und der Rest der Menschen schmückt mit dem verarbeiteten Perlmutt Häuser und Möbel. Schönheit hat ihren Preis. Wir Menschen haben unsere Leidenschaft für schöne Dinge auf Kosten der Lebewesen, die uns selten rühren.

Nach den drei Jahren, als die Baugruben für die Fundamente der Külliye-Bauten ausgehoben, Fundamente gelegt und alle notwendigen Aufträge für die nächsten Arbeiten erteilt worden waren, war die erste Phase der Arbeit hinter uns. Obwohl auch diese Istanbuler Winter nicht unbedingt mild waren, wurden unsere Arbeiter, samt Kriegsgefangenen, Handwerkern und Meistern stets beschäftigt und mit Bekleidung und Essen gut versorgt. An Freitagen hatten alle frei, um ihre Besorgungen zu erledigen und sich von der Arbeit auszuruhen. Diese Zeit war auch für mich, der ich eine breite Palette von Arbeiten zu beaufsichtigen hatte, nicht leicht. Aber ich war daran gewöhnt, etliche Bauten in Istanbul und anderen osmanischen Städten, wenn auch in kleineren Ausmaßen zu entwerfen und alle Arbeiten mit Hilfe meines Architektenstabes zur Zufriedenheit der Auftraggeber auszuführen, die meistens Stifter wie Prinzen, Prinzessinnen und reiche Paschas und manchmal reiche Witwen waren. Aber dieser Bau hatte ganz andere Dimensionen. Die Moschee, welche das Hauptgebäude des Komplexes werden sollte, sollte auf dieser Erde ihresgleichen suchen. Allein die Moschee mit sechs Minaretten und sechszehn Gebetsruf-Umgängen war eine bis dahin höchstens gedachte Idee, die niemals verwirklicht worden war. Vier von sechs Minaretten sollten jeweils drei Umgänge haben und zwei Minarette am Anschluss des Hofs je zwei. Von jedem Umgang der Minarette aus sollten drei Meere und sieben Berge Istanbuls zu sehen und die Gebetsrufe der Muezzine weit weg am Bosporus gehört werden. Die Moschee könnte dann als eine Antwort auf den Bau der Ayasofya verstanden werden und mit viel Liebe und Leidenschaft von Istanbulern und den Besuchern der Stadt gesehen und geheiligt werden. Der Bau würde in die Geschichte eingehen.

Zu Beginn der Ausschachtungen war ich bereits seit zwei Jahren verheiratet. Meine Frau Saide, die daheim ihre Webereien anfertigte, wollte für das an die Mosche grenzende Schlösschen des Sultans, das ich mir als Besonderheit der Anlage hatte einfallen lassen, einen kostbaren Kissenbezug aus Seide schenken. Die Vorbereitungen hierfür, der Entwurf der Muster, der Seidenkauf in Bursa und die Webarbeiten für den Bezug dauerten vierzehn Monate. Seltene Blüten in herrlichen Farben schimmerten prachtvoll auf dem Gewebe, als blicke der Betrachter in einen Blumenstrauß. Im Schlösschen würde der Sultan nach dem Freitagsgebet ruhen können und kurze Besuche seiner Untertanen empfangen, die er mit Baklava und Saftgetränk bewirten lassen würde.

Die Lieferanten in den Steinbrüchen auf der anatolischen Seite unseres Reichs möglichst nahe zum Marmarameer und dem Schwarzen Meer begannen ihre Aufträge auszuführen; ebenso lieferten die Marmorsteinbrüche auf der Marmarainsel im Marmarameer den benötigten Marmor. Auf Jahre hinaus waren die Arbeiter in den Steinbrüchen und die Lastgaleeren zuverlässiger Kapitäne mit Arbeit versorgt. In allen Teilen unseres Reichs sammelten die Finanz-Oberverwalter Spenden der Untertanen und brachten sie dem Sultan für den Bau.. Kein Untertan des Osmanischen Reichs sollte gezwungen werden, zu spenden. Das war die strenge Anweisung unseren jungen Sultans.
"Auf Zwang und Gewalt sollen keine Fundamente gebaut werden", war sein Befehl an sämtliche Paschas des ganzen Reichs, denen die Verwaltung oblag.
Im Jahre 1606 hatten nicht nur die Vorbereitungen und Arbeiten der Stiftung begonnen; Derwisch Pascha hatte mit seinem Leben für seine Machenschaften und seine Gewalt bezahlt. Die seit Jahrzehnten dauernden Aufstände in Anatolien nahmen zu und rieben an den Kräften des Reichs. Diese Aufstände wurden von Murad Pascha in den Jahren während seiner Zeit als Großwesir von 1606 bis 1612 bekämpft. Die Aufständischen wurden schwer bestraft, wenn sie lebendig festgenommen wurden. Murad Pascha kannte kein Erbarmen. Sein Name bleibt jedem im Gedächtnis, denn er hat seine Feinde, dreißigtausend an der Zahl, unter denen Räuber und Aufständische waren, in sogenannte blinde Brunnen stürzen lassen, obwohl sie teilweise noch lebten. Diese Massengräber hat er zuschütten lassen. Murad Pascha starb plötzlich im Frühjahr des Jahres in seinem Zelt, als er gerade Vorbereitungen für eine neue Strafaktion im Osten traf. Vermutungen, dass er vergiftet wurde, konnten nicht bestätigt werden. Als er starb, war er immerhin neunzig Jahre alt. Man nennt ihn Kuyucu, was nichts Schlimmes ahnen läßt, nur wer die Hintergründe kennt, erinnert sich mit Grauen an den „Brunnenbauer".

Große Bauvorhaben zu jenen Zeiten im Osmanischen Reich zu verwirklichen, war nicht leicht. Die Gelder waren in Kriege geflossen. Die Bevölkerungszahl war durch Kriege, Krankheiten und Erdbeben stark zurückgegangen. Viele landwirtschaftliche Flächen lagen deshalb brach. Aber obwohl die Zeiten für Bauvorhaben schwierig waren, hatten diese Stiftungsbauten gegenüber der Ayasofya Moschee unter günstigeren Bedingungen begonnen und waren von der Bevölkerung angenommen und von ihr unterstützt worden. Istanbuler hatten zu gegebenen Anlässen, wie Bayram- und Kandilfesten reichlich gespendet. Zu solchen Festen wurden unsere Bauarbeiter über ihre gemeinsam genommenen Mahlzeiten hinaus mit Gebäck und Nüssen von der Bevölkerung beschenkt. Sultan Ahmet war beim Volk beliebt, weil er kein Brudermörder war, wie seine Vorgänger und er hatte die Steuerlast der Bevölkerung gemildert und mehrere Aufstände in Anatolien zum Stillstand gebracht. Er hatte, um das Leben der Untertanen zu erleichtern, neue Gesetze erlassen; nur Druckereien, auf die alle Wissbegierigen sehnsüchtig warten, sind immer noch nicht gestattet. Da hat er auch nichts bewegt. Sein kurzes Leben reichte nicht, auch an diese Notwendigkeiten zu denken und Veränderungen zu bewirken.

Meine Schwägerin Ferihan schreibt. Sie beobachtet das Istanbuler Leben und macht Notizen. Sie wünscht sich die Verwirklichung dieses Bauvorhabens unseres gutherzigen jungen Sultans. Endlich solle unser Reich sich stabilisieren und möglichst keine Kriege mehr führen müssen, damit die Menschen in Sicherheit am Wohlstand teilhaben. Das würde doch allen zu Gute kommen, ein starkes befriedetes Osmanisches Reich würde den Gegnern im Innern und im Äußeren des Reiches schon Respekt abverlangen, ja vielleicht auch Furcht einjagen, aber es sei besser, als dauernd in Kriegen Gesundheit und Leben, Hab und Gut der Menschen zu vergeuden. Ich denke bei mir, wie soll es sonst in unserem Lande weitergehen, wenn immer gleich mit Kriegen auf jede Unstimmigkeit zwischen Völkern reagiert wird. Mein Schwager Peçevi Ibrahim Efendi, der Geschichtsschreiber, kennt sich da besser aus in den Entwicklungen.

Ich dachte während der ganzen Bauzeit an der Külliye, die ich als Oberarchitekt entworfen habe und begleitete, dass uns nur ja alles gut gelingen möge. Der Berg von Arbeiten an all dem Material, der vor mir lag, machte mir einerseits Angst, andererseits bereitete er mir eine unbeschreibliche Freude. Meine Fähigkeiten wuchsen mit dieser Aufgabe und ich war stolz, beauftragt worden zu sein. Dem jungen Sultan schenkte ich Vertrauen. Unser Sultan war mit 14 Jahren auf den Thron gekommen und kurz darauf an den Pocken erkrankt, hatte zwei Wochen mit hohem Fieber um sein Leben gerungen und kannte die Schwelle des Todes. Ihn hatte das Schicksal mächtig gerüttelt; er war geläutert aus dem Kampf um sein Leben hervorgegangen. Er hatte sich Ziele gesetzt.

Ich hatte an zwei Kriegszügen im Westen teilgenommen und hatte erlebt, dass Ziellosigkeit den Menschen verwirrt. Wenn ein Mensch auf etwas bestimmtes wartet, ist das weniger schlimm, weil er weiß, worauf er wartet. Wenn ein Mensch aber nicht weiß, worauf er wartet, ist er verloren. Im Krieg erlebt der Mensch mehrere Seiten seines Daseins. Er ist Kind und Erwachsener. Er ist mutig und hat trotzdem Angst. Er ist hungrig oder satt. Er ist feige und wenn er Menschen tötet, wird in seinem Inneren ein Teil seines eigenen Wesens mitgetötet. Keiner ist frei vor seinem Gewissen.

Ich war während der ganzen Bauzeit der Külliye-Bauten in Hochstimmung, die für mein Schaffen auch erforderlich war. Meine Mitarbeiter achteten mich, nicht etwa weil ich der Oberarchitekt war und ihnen direkt oder indirekt vorstand und zumindest einigen Oberpalastbeamten und Paschas von Ansehen ebenbürtig war, sondern weil ich allen gegenüber Geduld walten ließ und mit Fleiß meine Arbeit tat, die ich korrekt durchzog. Ich gab niemandem Anlass, mir etwas anzukreiden. Mit Genehmigung des Sultans hatte ich die Erlaubnis, alle Leute, Arbeiter, Tagelöhner, Sklaven, einschließlich die Aufsichtspersonen der zu bauenden Gebäude, selbst auszuwählen. Ich suchte mir von der Belegschaft des Topkapi-Palastes und von außerhalb Architekten und Baumeister, die ich von ihren früheren Bautätigkeiten kannte. Es waren zuverlässige Menschen und ich konnte auf sie zählen. Sie würden sich auch für mich einsetzen, wenn irgendwelche Verleumdungen gegen mich von Neidern in die Welt gesetzt würden. Das entsprach auch den Wünschen des jungen Sultan Ahmet, mit dem ich auch diese Angelegenheiten besprochen hatte. Sollte ich irgendwelche Schwierigkeiten haben, hatte er gesagt, dann solle ich diese vertrauensvoll mit ihm besprechen. Dieses große Vertrauen des Sultans habe ich zu keiner Zeit missbraucht. Meine Beauftragten vertrauten mir. Mit jedem Stein, der für die Bauten aus den Steinbrüchen herausgebrochen, zurecht gehauen und bereitgelegt wurde, an jedem Baum, aus dem das Holz für die Bauten gewonnen wurde, war gleichsam mein Mitgefühl und meine Liebe zu allen an der Arbeit Mitwirkenden. Eigentlich habe ich bereits alles wünschenswerte erreicht. Es bleibt nur noch zu wünschen, dass meine Familie, meine Frau Saide und unsere Kinder Ismail und Fatma gesund bleiben und wir unser Glück mit unseren Verwandten und Bekannten gemeinsam genießen. Das wünsche ich allen Menschen. Viele werden nach und nach in unsere Stadt kommen und diese unvergleichlichen Bauten sehen, die wir gebaut haben, und wer weiß, vielleicht werden sie auch an die Menschen denken, die diese Bauten gebaut und ausgeschmückt haben; Architekten, Arbeiter, Handwerker und Künstler.

Kapitel 8
Saide, die Frau des Oberarchitekten Sedefkar Mehmet Aga, erzählt:

Ich hatte mich gefreut, dass mein Wunsch, dem jungen Sultan ein Geschenk machen zu dürfen, in Erfüllung gegangen ist. Für das Geschenk, dass ein Sitzkissen wurde, brauchte ich einen Seidenstoff in drei Klafter Länge und fast einen Klafter Breite. Das Sitzkissen liegt jetzt in dem Schlösschen des Sultans bei der neu gebauten Moschee. Der junge Sultan lebt nicht mehr. Er ist mit seinen knapp achtundzwanzig Jahren von uns gegangen. Mein Mann Mehmet, der Oberarchitekt des Topkapi Palastes und der Verantwortliche für den Sultan-Ahmet-Baukomplex hat insgesamt dreizehn Jahre lang, die Vorbereitungszeit inbegriffen, an diesem Projekt gearbeitet. Er hat sich intensiv um die Wünsche des Sultans, die diesen Bau betrafen, gekümmert und für deren Verwirklichung gesorgt. Die restlichen Arbeiten am noch unvollendeten Teil des Baukomplexes werden bis zu ihrem Abschluss etwa drei Jahre dauern.

Auch ich hatte mit meinem Beitrag, dem von mir für das Sitzkissen gewebten Seidenstoff eine Weile gelebt und war darauf stolz, etwas geschaffen zu haben, was auch mich überleben würde. Ich habe meine beiden jungen Helferinnen, die ich in Seidenweberei ausbilde. Sie haben feine Hände und gute Augen und für diese außergewöhnliche Aufgabe die erforderliche Geduld und das richtige Empfinden für Farben und Formen. Unser Webstuhl steht in einem vom Tageslicht gut erhellten Raum; wenn unsere Augen ermüden, schauen wir hinaus in den grünen Garten und unsere Augen erholen sich von der Anstrengung an feiner Arbeit. Das Tageslicht ist erforderlich, um die feinen Farbunterschiede der gefärbten Seide auseinanderhalten zu können. Die Mädchen heißen Atiye und Arife. Wir arbeiten gut miteinander. Sie haben Vertrauen zu mir und ich vertraue ihnen. Das gegenseitige Vertauen war allmählich gewachsen. Ihr Elternhaus war nicht weit von unserem Hause entfernt. Sie kamen morgens und gingen vor dem Dunkelwerden zurück nach Hause. Unsere Köchin heißt Saliha. Sie ist seit zwanzig Jahren in Istanbul und war als Vierzehnjährige für die Küche eines Paschas gekauft worden. Als der Pascha vor zehn Jahren im Krieg starb ohne Nachkommen zu hinterlassen, wurden seine Bediensteten von verschiedenen Haushalten übernommen. Saliha ist eine dunkelhäutige Afrikanerin und mein Mann hat sie mit ihrem Einverständnis mit einem Schreiner verheiratet, sie wohnen in unserer Nähe. Saliha kommt morgens zu uns und hilft im Haushalt bis zum späten Nachmittag.

Nachdem wir mit dem Stoff für des Sultans Sitzkissen fertig waren, sprach sich das sofort in unserer Nachbarschaft herum und ich dachte mir eine Fest aus zur Besichtigung des Stoffes und lud alle Frauen und Mädchen, die sich den Stoff anschauen wollten, zu diesem Fest ein mit der Bitte, jede möge eine Spezerei mitbringen. Alle Frauen aus unserer Nachbarschaft pilgerten zu uns mit ihren größeren Töchtern. Ich hatte gemeinsam mit meiner zwölfjährigen Tochter Ipek, den beiden jungen Weberinnen und unserer Köchin alle Hände voll zu tun, die Schaulustigen zu empfangen und die Spezereien entgegenzunehmen. Unsere Köchin türmte auf ein großes rundes Tablett alle Herrlichkeiten, die kleine mit den Fingern zu verzehrende Happen verschiedenster Art waren, rundum bis hoch in die Mitte. Es war wie auf einer Pilgerreise. Eine Prozession lief in der Werkstatt an dem Webstuhl vorbei und die Bewunderung unserer Webarbeit wollte gar kein Ende nehmen. Alle durften nur schauen aber nicht den Stoff berühren. Als Wächterin hatte ich eines der Mädchen neben den Webstuhl gestellt. Alle, die den Raum verließen, nahmen sich von den auf dem Tablett aufgetürmten Leckereien Portionen auf Tellerchen. Unsere Köchin hatte einen erfrischenden Obstsaft bereitet und Ipek und eine meiner Weberhelferinnen verteilten das Getränk in Trinkschalen. Die Gäste waren so zahlreich, dass wir nicht genügend Sitzplätze hatten, deshalb standen sie sogar im Garten in Gruppen und schwatzten fröhlich. Da die Frauen ihre größeren Töchter mitgebracht hatten, war bald ein emsiges Gespräch im Gange, wer von den jungen Mädchen wohl bald Heiratsaussichten habe und welche wohl zu wem passen würde. Weiß der Himmel, die Frauen lassen wirklich keine Gelegenheit aus, Ehen zu schmieden.
Am nächsten Tag machte unsere Familie einen Ausflug fast bis ans Schwarze Meer. Unsere Kinder waren noch nie so weit auf dem Bosporus gefahren. Wir fuhren unterstützt mit einem Segel auf einem größeren Ruderboot, auf dem noch andere Ausflügler waren und deshalb legten sich eine Menge Ruderer in die Riemen, was unsere Kinder sehr beeindruckte. Sie waren wie verzaubert, von den grün bewaldeten Hügeln des blauen Bosporus. Sie blickten ins Wasser und sahen den Fischen zu, die in kleineren Schwärmen unter dem Boot dahinglitten und schauten den Möwen nach, die wendig in den Lüften kreisten. Ich war glücklich, dass ich mit meiner Webarbeit fertig war, dass wir zuhause gefeiert hatten und wir diese herrliche Fahrt genießen konnten. Es war mir mehr als ein Geschenk, dass ich in Istanbul lebe. Gegen Abend legte unser Kayik am Kai des Goldenen Horns wieder an.

Aus dem Stoff wurde der Bezug für das Sitzkissen genäht und über das mit Rosshaar gestopfte Formkissen gezogen. Das Sitzkissen für des Sultans Schlösschen an der Sultanahmet Moschee, denn so wurde die Moschee jetzt schon genannt, war fertig. Allah sei Dank. Mein Geschenk war fertig.

Zu meiner Schwester Ferihan und ihrem Mann Peçevi Ibrahim Efendi pflegen wir gute Beziehungen. Wir besuchen uns alle zwei drei Wochen abwechselnd. Im Vergleich zu den meisten Familien mit ähnlichem Verwandtschaftsgrad sitzen wir Frauen von unseren Männern nicht getrennt beim Essen und zur Unterhaltung. Auch unsere Kinder dürfen dabei sein. Bei diesen Besuchen wird offen erzählt, was jeder macht, und es wir über Freude und Leid gesprochen. Obwohl unser Sultan nicht mehr bei uns weilt, liegt uns allen die Fertigstellung seiner großen Stiftung, der Sultan-Ahmet-Külliye am Herzen. Mein Mann Mehmet erzählt dann, wie weit die letzten Arbeiten fortgeschritten sind, welche Schwierigkeiten neu aufgetaucht sind und wie der Mitarbeiterstab diese Schwierigkeiten zu meistern gedenkt. Manchmal erzählt mein Schwager Ibrahim Peçevi Efendi von seiner Kindheit in Peç und von Bauten, die er in seiner Heimat Ungarn, welche unter osmanischer Verwaltung steht, gesehen hat und zeigt in bebilderten Büchern, die in ungarischer Sprache gedruckt sind gedruckte Abbildungen von Kirchen und sonstigen Bauten, von denen er inzwischen die Baugeschichte kennt. Er erzählt auch sehr gerne aus seiner Zeit, die er in Ungarn verbracht hat. Er ist ein freundlicher Mensch und hat keine vorgefassten Meinungen, welche im Umgang mit anderen Leuten gewiss zu Schwierigkeiten führen würden. Meine Schwester hat viel Glück mit ihrem Ibrahim. Er ist ein Mensch mit Herz und Verstand.

Jedes Mal, wenn wir sie besuchen, schaue ich mir die Mitbringsel und die Stoffe genau an, die mein Schwager aus den weit entfernten osmanischen Ländern und westlichen fremden Ländern von seinen Reisen mitgebracht hat. Meine Schwester Ferihan bewahrt sie alle gut auf. Sie sagt, auf jedem Stoff sieht sie Geschichten, die Stoffe seien märchenhaft gemustert. Im Vergleich zu unseren Stoffen, auf denen Blumen, wunderschöne Streifen, Schrift und sonstige Motive eingewebt sind, sind auf jenen Stoffen Menschen, Tiere und manchmal ganze Landschaften abgebildet. Solche Stoffe sind dort sehr teuer, nur die Oberschicht kann sie sich leisten diese als Bekleidung zu tragen oder die Räume damit zu schmücken. Das einfache Volk trägt ganz einfache gewebte Stoffe ohne Farbe und Muster. Solche Stoffe hebt meine Schwester auch auf. Sie gefallen mir, obwohl sie so schlicht sind,. Ich bedaure aber, dass die überwiegende Mehrheit der Menschen anderwärts so farblos gekleidet ist. Das macht mich etwas traurig.
Wir sind alle über den Tod des Sultans sehr betrübt. Meine Schwester Ferihan liest uns manchmal von dem vor, was sie geschrieben hat. Mit der Bewertung ihrer geschriebenen Texte halten wir uns zurück. Wir wissen nicht, wie wir uns zu dem Geschriebenen verhalten sollen, es ist kein Märchen, es ist aber auch nicht geschrieben, wie ein Geschichtsbuch in der Art, wie mein Schwager schreibt, der ja Geschichtsschreiber ist. Mein Schwager Ibrahim sagt, was Ferihan geschrieben habe, sei eigentlich eine zeitgenössische Erzählung. Ibrahim, mit seinen Fremdsprachenkenntnissen unterstützt meine Schwester in ihren Bemühungen. Da er Übersetzungen aus der ungarischen Sprache macht, weiß er von einigen Romanen, die historische Themen zum Inhalt haben. Er hat auch einige gelesen und hat selbst welche zu Hause.

Kapitel 9
Der Schriftenmaler Hattat Kasim Gubari erzählt

Ich bin Hattat Kasim Gubari, der die Schriften auf den Kacheln im Inneren der Sultanahmet Moschee entworfen hat. Ich habe diese Kacheln in Iznik bei den Kachel-Werkstätten in Auftrag gegeben und diese Aufträge die ganze Zeit begleitete, bis sie fertig waren. Auch für das Grabmal des leider so früh verstorbenen Sultan Ahmet wurden in Iznik die Kacheln hergestellt, die mit Blumenmotiven und für manche Bereiche mit Schrift geschmückt sind. Sedefkar Mehmet Aga, der Oberarchitekt der Sultan-Ahmet-Külliye-Bauten, war für die gesamte Planung verantwortlich. Der gütige Sultan hatte die Schönheit der Werke, welche die Menschen schufen zu schätzen gelernt. Er wusste um die Vergänglichkeit seines eigenen Lebens genug, weil er bereits mit vierzehn Jahren so schwer erkrankte, dass die Bevölkerung schon damals um sein Leben bangte.
Ich war in der Phase der Bauplanung mehrfach mit dem Oberarchitekten beim Sultan in Topkapi-Palast. Sultane der Osmanen in diesem riesigen Reich hatten ständig Sorge um Kriege, die gerade entflammt, gerade niedergeschlagen oder noch im Gange waren, oder sie hatten Sorge hinsichtlich neuer Kriege, die sich bereits abzeichneten. Aufstände, die manchmal von Nachbarstaaten unterstützt werden, müssen jedes Mal bekämpft werden. Das gleiche gilt für Räuberbanden, die immer wieder ihr Unwesen treiben. Weitere Sorgen machten Epidemien und Naturkatastrophen überall im Reiche. Neue Geschehnisse katastrophaler Art bringt neues Verhalten mit sich. Unser junger Sultan war sehr gut ausgebildet. Sein Lala Mustafa Efendi war immer bei unseren Versammlungen dabei, ein ruhiger Mensch mit viel Geduld und sehr aufmerksam, einer der zuhört, um richtige Fragen zur rechten Zeit zu stellten und um zur rechten Zeit seine Meinung zu sagen. Wenn man mit ihm zusammen war und sich verabschiedet hat, glaubt jeder, er selbst habe wichtige Lösungen zu wichtigen Problemen gefunden. Lala Mustafa Efendi half nur dabei, diese Lösungen von jedem sanft herauszulocken. Ich bewundere ihn sehr, wie ihm das gelingt. Ich stellte nach und nach fest, dass der Sultan, allein durch die Anwesenheit des Lala Mustafa Efendi, neue Kräfte aus seinem empfindlichen Körper und Geist schöpfte, die ihn zu neuen Entscheidungen führten und für neue Aufgaben motivierte. Der Sultan hatte damit begonnen, die vorhandenen Verwaltungsgesetze überprüfen und neue verabschieden zu lassen. Eine Schar von Beratern arbeitete an neuen Gesetzen. Lala Mustafa Efendi begleitete auch diese Arbeiten, ohne dass die Verwaltungsfachleute seine Anwesenheit als eine Einmischung in ihre Arbeit empfanden. Der Geschichtsschreiber Peçevi Ibrahim Efendi hatte einige Verwaltungsbücher aus dem Ungarischen übersetzt. Er war ebenfalls bei solchen Versammlungen dabei, wenn die neuen Gesetzesvorlagen erörtert wurden. Ich habe zwar an keiner der Versammlungen selbst teilgenommen, bekam aber mit, wie die Sitzungen verliefen. Als Hattat ist es meine Aufgabe, Dokumente in Reinschrift zu schreiben und ich hatte die Änderungen auf den Entwürfen vor mir und konnte die gestrichenen oder geänderten Passagen deshalb einsehen. Ein Hattat, der sich für alles interessiert, kann meiner Meinung nach mit seiner Arbeit besser zurechtkommen. Schon als Kind machte ich mir Gedanken, wenn ich etwas beobachtete, was so nicht hätte sein dürfen oder wenn ich an etwas dachte, was gar nicht da war, was ich mir nur ausgedacht hatte. Ich bewunderte alles, ein Sandkorn, einen Tropfen Wasser, eine Ameise, ein Pferd, die Sterne am Himmel, und wunderte mich, dass jeder Mensch anders aussah. Mit zehn Jahren, nachdem ich in der Gemeindeschule im Stadtteil Ayasofya die Grundfertigkeiten des Lesens, Schreibens und anderer Dinge gelernt hatte, wollte ich in die Hattat-Schule, die im Wohnviertel Ayasofya, nicht weit von unserem Hause war. Ich war der einzige Sohn in der Familie. Mein Vater hatte einen kleinen Laden in Tahtakale, in der Nähe des Fischmarktes am Goldenen Horn. In seinem Laden verkaufte er Seile und Garn aus allen erdenklichen Materialien für Bekleidung, Schiffstaue, Saumzeug für Lasttiere und anderen Bedarf. Aus allen Teilen der Erde kamen diese Waren nach Istanbul zu den Großhändlern, bei denen auch mein Vater seine Waren zum Weiterverkauf kaufte. Istanbul ist die allergrößte Handelsstadt der Welt. Was hier an einem Tag von den Schiffen entladen wird, könne für ein kleines Land wie zum Beispiel Dubrovnik an der Adria ein ganzes Jahr reichen, sagte Petar Radkovic, ein Kaufmann von dort, als er sich mit meinem Vater unterhielt. Dieser Dubrovniker Kaufmann, der in kleinen Mengen bei meinem Vater bestimmte Seidengarne kauft, die sehr schwer bei Großhändlern zu finden sind, weil es dick gesponnene, sehr stabile Garne in vielfältigen Farben sind. Sie werden in Dubrovnik für Gobelins verwendet, die für Paläste und Adelshäuser in Europa angefertigt werden und sehr gefragt sind. Dubrovnik ist eine Stadtrepublik an der Adria, die, abgesehen von einer kurzen osmanischen Besatzungszeit, vor zweihundert Jahren, dem Osmanischen Reich gegenüber sehr gut gesinnt ist. Von den Dubrovnikern sagt man, sie seien gute Unterhändler, wenn es zwischen der Osmanen und den Venezianern gut zu paktierten gilt und sie unterhalten beide Seiten mit Neuigkeiten im jeweils anderen Lande auf dem Laufenden. Mit etwa zwölf Jahren hatte ich immer die Ohren gespitzt, wenn Herr Radkovic im Laden meines Vaters erschien; ich schaute ihn mir heimlich ganz genau an ohne dass er etwas davon bemerkten sollte. Ich hatte dabei das prickelnde Gefühl, einen möglichen Spion, auch wenn er ganz harmlos erschien, so nahe anzuschauen. Wenn er da war, schickte mich mein Vater für den Gast und sich selbst Kaffee vom nahebei gelegenen Kaffeehaus bestellen, was mir die Gelegenheit gab, nach der Bestellung des Kaffees sofort zurückzukehren und unverzüglich meine Beobachtungen fortzusetzen. Bis der Kaffee bereitet wäre und auf dem Hängetablett samt der zwei Glas Wasser in den Laden meines Vaters gebracht würde, würden immerhin einige Minuten vergehen, die ich mir nicht entgehen lassen wollte, aber jedes Mal kam ich bei meinen Beobachtungen zu keinem Entschluss, ob er ein Spion sei. Allmählich war mir das dann nicht mehr wichtig, zu meinem Vater und zu mir war er jedenfalls freundlich und Herr Radkovic hatte meine Interessen für Schriften und Muster erfahren und mir sogar einmal zwei Bücher geschenkt, in denen Muster der Gobelins, die in Dubrovnic gewebt wurden, abgebildet waren. Sowohl die Schrift wie auch die Muster waren gedruckt und die Motive koloriert. Er sagte, dieses Buch könne mir vielleicht Anregungen bieten, wenn ich Schriften und Motive entwerfen werde. Die Bücher bewahre ich heute noch auf. Für mich sind sie ein gutes Geschenk von jemandem, den ich für einen möglichen Spion gehalten habe, einen, der uns nicht schadete, ganz im Gegenteil, mir sogar half auf der Suche nach neuem Material für Schriften und Motive.

Der Stadtteil Tahtakale mit seinen zahlreichen Geschäften, den Händlern, die aus aller Welt kommen, ist ein geheimnisvoller Ort, genauso geheimnisvoll, wie Galata auf der anderen Seite des Goldenen Horns. Da war ich auch schon mehrere Male mit meinem Vater. Es war für mich sehr abenteuerlich. Die dicht gebauten Häuser in den gewundenen Gassen zogen sich den Hang hinauf und hatten meistens viele Stufen, die so flach waren, dass auch mit Lasten beladene Tiere oder Lastträger darauf ohne Schwierigkeiten gehen konnten. Mein Vater machte mich auf die Bauweise der Häuser aufmerksam und zeigte mir, dass überall zwischen den Häusern Geschäfte, Kirchen, Synagogen und kleinere Moscheen sind. Eine Kirche habe ich mit ihm betreten und erinnere mich an die Farbenpracht der Ikonen und der vergoldeten Holzschnitzereien an einer Altarwand, die im Dämmer des Kerzenscheins geradezu magisch funkelte. Die vielen fremden Sprachen, die von der dort wohnenden und arbeitenden Bevölkerung gesprochen wurde und mir auf Schritt und Tritt vernehmbar war und die mehrheitlich fremdländische Bekleidung ließen in mir ein Gefühl aufkommen, als sei ich in eine fremde Stadt geraten und doch gehört Galata zu Istanbul. Istanbul sei wie ein Suppenkessel in dem ungewohnte Zutaten die Suppe würzen, meinte mein Vater. Viele Kunden meines Vater lebten dort. Manchmal kamen sogar in Galata wohnende Mütter mit ihren Töchtern nach Tahtakale in unseren Laden. Sie gingen daheim Tätigkeiten nach, für deren Herstellung sie Material bei meinem Vater kaufen kamen. Natürlich machte es mir Spaß, heimlich diese Mädchen zu beobachten, wenn sie bei uns im Laden waren und mir manch einen verstohlenen Blick zuwarfen. Wenn sie untereinander flüsterten und leise kicherten, schaute ich besonders ernst und würdig von meiner Beschäftigung auf. Zumindest bildete ich mir das ein. Auf jeden Fall hat mir meine Anwesenheit im Laden meines Vaters jedes Mal Freude gemacht, deshalb denke ich heute noch oft und gern daran. Möge mein seliger Vater in Allahs Frieden ruhen.

Als ich fünfundzwanzig Jahre alt war, heiratete ich die Tochter einer Nachbarin. Meine Frau Melike kann lesen und schreiben. Sie ist die erste Person, der ich meine Schrift- und Motiventwürfe zeige. Wir besprechen gemeinsam meine Entwürfe und wenn sie Änderungsvorschläge und Verbesserungsvorschläge macht, die mir einleuchten, nehme ich diese Vorschläge gern an und setze sie um. Natürlich lasse ich mich vom Architekten der Bauten, die ich mit Schrift ausstatte, zuerst beraten, damit die Arbeit gelingt, um von vornherein aufwendige Korrekturen bei der Endausführung zu vermeiden Die Schriften für die Bauten des Sultan-Ahmet Projektes und auch die Muster der Kacheln sind überwiegend in Blauvariationen gehalten. Das habe ich von Anfang an mit den Architekten abgestimmt. Die Bauten und Innenausstattungen, Schriften, Türen, Fenster und Sonstiges, finden Anklang bei allen Bevölkerungsschichten. Was die Moschee betrifft, ist die Wirkung so gut gelungen, weil der Oberarchitekt, unser Sedefkar Mehmet Aga die vier Säulen, welche die Hauptkuppel und die Halbkuppeln tragen, fasst an die vier Wände der Moschee gelehnt hat, sodass man sie als tragende Säulen kaum wahrnimmt. Insofern ist das eine bis dahin nicht gesehene Neuheit. Am Tage der Eröffnung der Moschee waren aus der ganzen Welt Gäste gekommen, die dieses Wunder einer Moschee mit sechs Minaretten bewunderten. Sechzehn Muezzine mit den besten Gesangstimmen riefen von sechs Minaretten die Menschen zum Gebet. So etwas hatte die Welt noch nie erlebt. Als ich zum ersten Male den Gebetsruf von dieser neuen Moschee hörte, lief mir ein Schauer über den Rücken und sämtliche Härchen schienen sich aufzurichten, so sehr hat mich dieses Erlebnis erfasst. Das erste Gebet war das gemeinsame Freitag-Mittag-Gebet. Der Sultan nahm unmittelbar hinter dem Imam seinen Platz. Rechts und links von ihm Wesire, Paschas und Palastbeamten und sonstige Persönlichkeiten aus allen Teilen des Osmanischen Reichs saßen nebeneinander, so dass sich ihre Schulten fast berührten. Der Boden war mit Teppichen belegt. Ich hatte mich auf die rechte Seite des Haupteingangs begeben. So konnte ich inbrünstig beten. Von meinem Platz aus konnte ich aber alles Geschehen wahrnehmen. Die Anwesenden brachten ihr Mitgefühl mit dem schwer kranken Sultan Ahmet durch würdige Haltung zum Ausdruck und dennoch leuchtete ihnen die Freude und der Stolz aus dem Antlitz über das gelungene Werk. Gemeinsam beteten die Gläubigen für die Genesung des Sultans. In meinem Inneren fühlte ich mich reich durch das Erlebte und arm durch das Wissen um den baldigen Verlust dieses jungen Sultans.

Die Fertigstellung der gesamten Stiftungsbauten war zu Gunsten der Fertigstellung der Moschee auf zwei drei Jahre hinaus verschoben. Die Moschee war fertig und der Sultan hatte an der Einweihung teilgenommen. Die Dankbarkeit, die ich auf den Gesichtern der betenden Menschen sah, gab mir Trost.

Fünfzig Tage später starb unser wahrlich geliebter Sultan mit seinem knapp achtundzwanzig Jahren am 23. November 1617. Möge der Allmächtige ihm für alle Zeiten seine Gnade gewähren.

FERIHAN
Alle Versuche, das Leben unseres Sultan Ahmet zu verlängern, waren gescheitert. Warum musste ein Sultan, der bei unserer Bevölkerung beliebt war, diese Welt so früh verlassen? Er hatte das Chaos im Reich, Aufständische und Räuberbanden, erfolgreich bekämpfen lassen, die Kriegsmarine im Mittelmeer gegen Piraten und mögliche Feinde verstärkt, im Osten Friedensverhandlungen abgeschlossen, Verwaltungsgesetze verbessert und neue erlassen. Nun hatte er uns für alle Zeiten diese Stiftungsbauten neben dem alten Byzantinischen Hippodrom hinterlassen. Er hatte das Thronerbengesetz geändert, künftig sollte der älteste Sohn des verstorbenen Sultans der Thronerbe sein. Somit war der traurige Brudermord, der einst zum Besten des Reichs von Sultan Mehmet II. gesetzlich festgeschrieben worden war, ein für alle Mal aus der Welt geschafft. Alle, die ich kenne, sind über diese Regelung froh. Denn diese Grausamkeit, die, wenn auch wörtlich ohne Blutvergießen, listigerweise mit Seidenschnüren durch erdrosseln gelang, war eine Version der Rechtsgelehrten, die sicher an den wahren Inhalt dieses Gesetzes und seine Folgen selbst nicht glaubten. Die Kinder der Sultane hatten alle bis dahin mit Todesangst gelebt. Das sollte gut sein? Das hatte ich selbst bezweifelt und andere Menschen seit hundertfünfzig Jahren wohl ebenfalls. Hatten nicht alle Religionen das Morden verurteilt? Waren wir Menschen, die so etwas mitmachten, gar mitdachten, dieser Erde würdig?

Auf jeden Fall war ein Kapitel der Osmanischen Geschichte mit dem Tode des Sultans zu Ende gegangen. Ich überprüfte meine Schriften, die ich mit der Thronbesteigung Sultan Ahmets begonnen hatte. Unser Sultan war mit Istanbul auf das engste vertraut gewesen. Niemand wird je wissen, warum ein Kind gerade in Istanbul geboren wird oder aufwächst. Was ich aber weiß: Istanbul ist ein Traum, den jeder Mensch auf seine Art träumt und niemand will von diesem Traum geweckt werden, insbesondere dann nicht, wenn er zum Traum selbst etwas beigetragen hat. Sultan Ahmet hat zu diesem Traum viel beigetragen. Ich war alle die Monate während seiner Krankheit nachdenklich. Mein Mann Ibrahim Efendi kannte diesen Sultan sehr gut. Ibrahim war von Topkapi-Palast-Wesiren mit vielen befristeten Aufträgen in Anatolien und auf dem Balkan alle die Jahre als Geschichtsschreiber beauftragt. Er war nirgendwo fest angestellt und genoss dennoch das Vertrauen der Staates. Dazu kommt noch, dass er sich in einigen Sprachen zu Hause fühlt und den Umgang mit Menschen sehr gut beherrscht. Wenn Menschen, wer sie auch immer sind, Ibrahim begegnen, werden sie von ihm angezogen, und wenn sie dann noch mit ihm privat oder auf andere Art zu tun haben, haben sie keine Angst und Bedenken, ihm ihre Freude, ihre Sorgen, ihre Gedanken mitzuteilen, weil sie wissen, er behält es für sich, es sei denn, die Weitergabe ist gewünscht, dann tut er es auch ganz sicher und mit Verlass. Ibrahim hatte oft mit dem Sultan und seinem Lehrer Lala Mustafa Efendi zu dritt Gespräche geführt, in denen, wie ich von Ibrahim erfuhr, jeder seine Erfahrung, Einsicht, Meinung und Empfehlung ohne Rangordnung zur Sprache brachte. Obwohl Ibrahim mir das nicht so erklärte, habe ich es jedenfalls so verstanden. Diese Vorgehensweise war ungewöhnlich, jedoch umso erfreulicher.

Ich schrieb fast jeden Tag in mein Buch, unabhängig davon, ob wichtige oder unwichtige Vorkommnisse waren. Ich behielt mir vor, gegebenenfalls später das Sortieren vorzunehmen. Durch das Schreiben meines Mannes wurde ich angeregt. Ich schreibe weiterhin gern. Bevor ich mich ans Schreiben begebe, erfüllt mich immer das seltsames Gefühl, dass ich hiermit dazu beitrage, künftigen Lesern eine Brücke zur heutigen Zeit zu bereiten. Dieses Gefühl macht mich sehr glücklich.

Ibrahim hat von seinen Reisen nach Anatolien handgroße Objekte aus Ton mitgebracht, die man gefunden hat, die wohl sehr alt sind. Es scheinen Briefe zu sein, sie haben sogar Umschläge aus dem gleichen Ton und sind wohl bei einem Brand ganz fest gebacken.. Die Keilförmig eingedrückte Schrift hat bisher kein Mensch lesen können, heißt es. Auch die Bilderschrift auf dem Obelisken, der vor der neuen Moschee auf dem einstigen At Meydani beziehungsweise ehemaligen Hippodrom aus christlicher Zeit, dem heutigen Sultanahmet Platz steht, ist bisher noch von niemandem entziffert worden. Diese Bilderschrift auf dem Obelisken und die Schrift auf den Tontafeln sind nicht gleich. Ibrahim sagt, er habe aus alten Büchern herausgefunden, dass diese Schriften damals als Brief verwendet wurden oder zu mehreren Tafeln beispielsweise ein Buch dargestellt haben sollen. Man habe sich ihrer vor drei oder vier oder gar fünftausend Jahren bedient.

Ich hatte von Ibrahim die lateinische Schrift gelernt. Ich las im unteren Bereich des Obelisken, wenn auch nicht so leicht und Ibrahim konnte mir den Text übersetzen. Dem nach ging es halt um eine Zeremonie, in der die kaiserlich-byzantinische Macht demonstriert wurde.

Einige Wochen vor dem Tode des Sultans hatte ich die mehrere Tage lang über dem Bosporus die Vogelzüge beobachtet, die von Norden gen Süden zogen. Das ist jedes Jahr wie ein Schauspiel. Ich freute mich, dass von unserem Haus aus das Goldene Horn, teilweise der Bosporus und der Himmel über diesen Gewässern und die Vogelscharen zu sehen waren. Was ist das doch für ein Glück, das einem Sterblichen in diesem Leben zuteil wird, denke ich jedes Jahr wieder. Wenn die Kinder zu Hause sind, beobachteten sie auch die einander umkreisenden, auf und nieder wogenden Schwärme; ich habe den Eindruck, sie werden auch eines Tages flügge sein und ausschwärmen, wie die Vögel, irgendwohin, wo ihr Topf den passenden Deckel findet. Ich dagegen wünschte mir, für alle Zeiten hier in Istanbul zu leben. Warum ich mir das wünsche, weiß ich nicht. Natürlich wäre ich auch bereit, wenn es sein müsste, anderswo zu leben. Dennoch weiß ich, dass ich in meinem Herzen die Sehnsucht nach Istanbul mitnehmen würde.

Ich mache mir jedoch nichts vor. Betrachte ich die Begebenheiten, die hier und andernorts vorkommen, sind manche schrecklichen Geschehnisse darunter, die mein Mann als Geschichtsschreiber in seinen Protokollen aufzuschreiben verpflichtet ist. Ich werde einiges aus seinen Berichten hier weitergeben, ohne irgendwelche Änderungen oder Ergänzungen vorzunehmen:
Als der neunzig jährige Großwesir Kuyucu Murad Pascha während der Vorbereitungen für einen neuen Krieg gegen den östlichen Nachbarn im Frühjahr 1612 starb, versah Nasuh Pascha, einer der Begleiter des verstorbenen Kuyucu Murad Pascha, den Posten des Verstorbenen und schickte das Großwesir-Siegel an den Sultan nach Istanbul. Inzwischen ließ Nasuh Pascha einige der Vertrauten des verstorbenen Murad Pascha auf folgende Weise verschwinden: Ömer Kethüda, den Oberbegleiter und Berater von Murad Pascha und Sari Hüseyin Aga, den Oberoffizier der Wache, ließ er in der Burg von Diyarbakir einsperren, erwürgen und von der Burg in die Tiefe werfen. Dann ließ er die Nachricht verbreiten, beide seien aus dem Gefängnis ausgebrochen und durch einen Unfall so unglücklich gestürzt, dass sie sich die Beine gebrochen hatten und daran gestorben seien. Nasuh Pascha hat zusätzlich mehrere der Vertauten des gestorbenen Kuyucu Murad Pascha mit verschiedenen Strafen bestraft.

Als das Siegel in Istanbul im Topkapi-Palast beim Sultan eintraf, ernannte dieser Nasuh Pascha zum Großwesir und übersandte diesem das Siegel mit der Ernennungsurkunde. In Diyarbakir war ein Gesandter des östlichen Nachbarn eingetroffen. Nasuh Pascha nahm den Gesandten und seine Begleitung mit nach Istanbul, wo ein Friedensvertrag unterschrieben wurde.

Sultan Ahmet gab seine dreizehn Jahre junge Tochter dem neuen Großwesir Nasuh Pascha zur Frau. Wie üblich, wurde die Hochzeit groß gefeiert. Dann begab sich der Sultan mit seinem Gefolge nach Edirne, um in den Wäldern zu jagen. Im Frühjahr kehrten sie nach Istanbul zurück.

Auch im Jahr darauf protokollierte mein Mann Ibrahim wieder, der Sultan habe sich mit seinem Gefolge nach Edirne begeben, um dort in den Wäldern zu jagen. Im Frühjahr seien sie wieder nach Istanbul zurückgekehrt.

Auch das Jahr verging gemächlich. Mein Mann schrieb weiter in sein Heft. 1614 kam schlechte Nachricht aus Sinop am Schwarzen Meer. Die Burg von Sinop war überfallen worden. Viele Menschen waren gefangen genommen oder getötet worden. Aus der Stadt geflohene Bewohner kamen nach Istanbul, um sich bei den für die Sicherheit des Landes zuständigen Beamten Gehör zu verschaffen und um Hilfe zu bitten. Als das dem Sultan zu Ohren kam, fragte er seinen Schwiegersohn, den Großwesir Nasuh Pascha, nach dem Stand der Dinge. Nasuh Pascha ließ das Geschehen herunterspielen. Der Sultan ging indessen sorgfältig vor und vergewisserte sich durch andere Quellen, beispielsweise beim Obermufti und als er dahinter kam, dass Nasuh Pascha die Unwahrheit verbreitet hatte, schickte der Sultan den obersten Sicherheitschef mit einigen Scharfrichtern zum Palast des Nasuh Pascha, der dort mit seiner Frau, der Sultanstochter saß und sich sicher wähnte. Ein Scharfrichter ging zur Sultanin und führte sie fort ans Fenster, und während sie und der Scharfrichter die Aussicht betrachteten, wurde Nasuh Pascha von einigen Scharfrichtern mit einer Seiden-Schnur erdrosselt.

Über Nasuh Pascha, den Großwesir, gab es noch ein Gerücht, das aber mein Ibrahim nicht aufgeschrieben hat. Angeblich hatte Nasuh Pascha vor, den Sultan zu stürzen und einen Pascha aus der osmanischen Enklave Krim auf den Thron steigen lassen. Derartiges ist jedoch nicht bewiesen worden.

Als Nachfolger wurde der zweite Wesir vom Sultan zum Grosswesir ernannt und hatte die Aufgabe, Ordnung zu schaffen. Zwei Jahre vergingen, da wurden nach Osten hin wieder Kriege geführt und es wurde gegen Rebellen gekämpft. Darüber berichtet Ibrahim in sein Heft. Das Leben und das Sterben der Menschen hatte auch in dieser Zeit keinen günstigeren Verlauf genommen. Hunger, Krankheit, Feuer, Erdbeben, Flutkatastrophen und allerlei Ängste um Verlust des Besitzes lassen den Menschen wenig Spielraum für Verbesserungen. Geburt, Heirat, religiöse und sonstige Feste bringen Abwechslung in den Alltag. Die Menschen gehen ihrer Arbeit nach und sind froh, wenn sich die Arbeit lohnt.

Trotz all der nachdenklichkeiten macht mir das Leben in Istanbul sehr viel Freude. Morgens höre ich von den Minaretten die Gebetsrufe, danach die Musik der Mehterkapelle aus dem Garten des Topkapi-Palastes. Mein Ibrahim ist glücklich, dass die Arbeit an den Külliye-Bauten ohne große Schwierigkeiten fortschreitet und fast abgeschlossen ist.

Was ich mitbekam und mich in den letzten Jahren auch nachdenken ließ, war die Tatsache, dass unser Sultan, dessen Gesundheit seit seiner Kindheit sehr angegriffen war, sich bei diesen winterlichen Jagdvergnügen in den Wäldern um Edirne eine Lungenkrankheit zugezogen hatte und er, trotz der Mahnungen seiner Ärzte, weiterhin bei Kälte und Nässe in der Folgezeit auf die Jagd ging. Ich hätte mir gewünscht, dass er mit seiner Gesundheit nicht so sorglos umgegangen wäre und er uns erhalten geblieben wäre, aber nun ist er tot und statt seiner ist nicht einmal sein Sohn auf dem Thron, sondern der neue Herrscher ist der Onkel des Verstorbenen, von dem bekannt ist, dass er geistig behindert ist. Man weiß, dass Intriganten entschieden haben, ihn auf den Thron zu setzen, statt des erst dreizehnjährigen Osman, des eigentlichen Thronfolgers und Sohnes des verstorbenen Sultans.

Kapitel 10
Lala Mustafa Efendi ergreift das Wort:

Als sich mein einstiger Schüler, mein Sultan Ahmet sich aus diesem Leben verabschiedete, waren wir, ich und meine Familie sehr traurig. In meiner Familie konnte jeder seine Trauergefühle verarbeiten und nach außen mit Würde und Zurückhaltung sein Leben weiterführen. Die Bevölkerung Istanbuls weinte und trauerte. Wo ich Menschen begegnete, sah ich das in ihren Gesichtern. Doch glaube ich, dass dieser Sultan tatsächlich eine große emotionale Lücke hinterlassen hat, denn ihn hatten die meisten Menschen gern. Meinem Ahmet war es gelungen, die Külliye zu hinterlassen und damit die Schönheit dieser Stadt um ein weiteres Bild zu vervollkommnen. Mit diesen Bauten können sich Menschen identifizieren. Die Bauten stehen dort, als sei es selbstverständlich. An den Bauten hatten die Leute mitgewirkt, sie empfanden diese als einen Teil von sich selbst. Das habe ich immer wieder von Menschen gehört, die an diesen Gebäuden standen und besonders von jenen, die sich in der Moschee aufhielten.

Meine Aufgabe im Palast hatte in den letzten drei Jahren darin bestanden, die Erziehung des Thronfolgers Osman, des Sohnes Sultan Ahmets zu leiten. Er ist außerordentlich intelligent und kräftig. Noch bin ich sein Lehrer. Das Leben im Topkapi-Palast geht weiter. Morgens nach dem Gebetsruf erklingt die Musik der Mehter-Kapelle; ich höre diese Klänge, wenn ich mich aus unserem Hause begebe und mich auf dem Weg zum Palast befinde. Istanbuler sind unterwegs, die irgendwohin eilen, Frauen, Männer, Kinder, Soldaten. Wenn sie mich versteckt ansehen begegnen unsere Blicke einander. Seit einer Woche begegne ich früh morgens einem Dichter, der vor sich hin murmelt. Ich grüße ihn; er grüßt mich mit einem Kopfnicken und murmelt seine Gedichte weiter, jeden Tag sind es neue Gedichte, an denen er vor sich hin murmelnd arbeitet. Manche schwärmen vom trillernden Gesang der Vögel in nächtlichen Rosengärten und von vibrierendem Glanz der Wellen bei Vollmond. Ich frage ihn, wie er heißt: „Taschkenti", sagt er, "Isa Taschkenti..." Ich frage ihn, woher er kommt? Versonnen schaut er mich an. "Ich bin Istanbuler... ein ehemaliger Sklave..." sagt er. "Diese Stadt ist meine Liebe." Dann erzählt er mir, dass er sieben Jahre lang Rudersklave auf einem venezianischen Schiff war und vor zwei Jahren erst nach Istanbul den Weg fand. Mehr wollte er nicht erzählen und ich wollte ihn nicht weiter drängen. Gestern habe ich mich bei ihm etwas länger aufgehalten. Er sitzt meistens vor der Ayasofya Moschee und schaut in Richtung der Sultanahmet Moschee. Er singt:

"Du, Sultanahmet...
... bist...
... die Blaue,
... vor mir...
Du, Ayasofya
... bist...
... die gelbe
... hinter mir..
Ihr...
... seid...
... beide
... in mir...
.... Schließt Euren Frieden ...
.... für alle Zeiten...
Eure Zeiten...
... ob hinter mir...
... oder vor mir...
.... sind...
meine Zeiten..."

Ihr seid Perlen am Diadem.

Sein Gedicht gefiel mir gut. Ich brauchte ihn nicht zu fragen. Die Farbe Blau war die in der Sultanahmet Moschee, so fühlte ich mich auch darin, und die andere Moschee ist von außen ockergelb.

Ich hockte mich zu Taschkenti. Es war kalt. Eine dünne Wolke über der Sultanahmet Moschee sah wie gefroren aus. Ich war beglückt, dass ich mittlerweile von Isa Taschkenti ein Gedicht vollständig gehört hatte. Ich drehte mich zur Ayasofya um und es schien mir, als habe diese tausend Ohren gespitzt.

Während ich diesem Derwisch begegne, verdränge ich meinen Schmerz, der durch den früheren Tod meines einstigen Schülers Ahmet, unseres geliebten Sultans ständig an mir nagt. Sultan Ahmet ist mir überall gegenwärtig. Manchmal ist er streng mit mir und scheint zu sagen:

"Zu meinen Lebzeiten bist du sanft mit mir umgegangen; warum bist du jetzt so verschlossen und leidest bei jeder Kleinigkeit, als wäre die Welt mit meinem Tode untergegangen. Ich war eine Knospe als ich geboren wurde. Was ich fand, war schon da, war nicht wegen mir geschaffen, sondern für alle. Schon als Kind habe ich erkannt, dass du dir eine Lebensaufgabe gestellt hattest, aus mir einen barmherzigen, warmherzigen, mit allen Lebewesen mitfühlenden Menschen zu formen. Du hast mich nicht geformt, nur begleitet und in mir in erster Linie den Menschen gesehen und erst dann den Thronfolger. Für diese Nähe war ich dir zu meinen Lebzeiten dankbar, obwohl ich das nicht einmal als Herrscher sagen durfte, da ich die Staatsmacht verkörperte. Wäre mir ein zweites, gesünderes Leben vergönnt, würde ich mir einen solchen Lehrer wünschen. Ich habe die Erkenntnis von Vergänglichkeit früh genug durch deine aufmerksame Begleitung und Zuneigung erfahren. Das mag unser Trost sein. Wärest du vor mir gestorben, wüsste ich nicht, wie ich mich trösten sollte. Leid und Freude sind keine Gegensätze, sondern beides gehört zusammen. Bin ich auch nicht mehr wirklich, so ist von meinem Wesen dennoch etwas sinnlich Erfahrbares in dieser Welt geblieben, das mich überdauert. Das Leben blüht auf, wenn Dichter zwischen der Ayasofya und der Sultanahmet Moschee singen und wenn zwischen den Minaretten die Sonne aufgeht. Menschen gehen an meiner Moschee vorbei; mein Gruß an sie ist diese Moschee, sie grüßen mich frohen Blickes. Ich bin den ganzen Tag bei ihnen, wie sie bei mir. Manche nehmen es mehr wahr, manche weniger. Manchmal erfreuen sich die Menschen an Reiterspielen auf dem großen Platz mit dem Obelisken und der Schlangensäule. Das farbenfrohe Ereignis belebt heiter den Platz. Reiter und Pferde geben ihr Bestes und schwitzen. Das Auge erholt sich in Betrachtung der gesamten Harmonie nach dem Spiel. An manchen Tagen bin ich der sechs- oder siebenjährige Knabe. Du hältst mich an der Hand; wir gehen in dieser Stadt spazieren, in der an ihren Häfen an einem Tag soviel Waren aus den Schiffen auf- und abgeladen werden, wie an Venedigs Häfen in einem Jahr. Ich staune, als ich zum ersten Mal die Lastenträger sehe, die auf ihrem Rücken die Waren aus den Schiffen in die Lager tragen oder Lasten auf die Schiffe schleppen. Du staunst genauso wie ich, als sähest Du das alles zum ersten Mal. An uns ziehen Matrosen, Kaufleute, Konsularbeamte vorbei und unsere osmanischen Menschen, Kinder, Frauen, Männer aus allen Teilen unseres Weltreiches.

Unsere ein Dutzend getarnten Begleitpersonen folgen uns. Sie mögen ihre Arbeit, die sie unauffällig ausführen. Ich wünsche mir, ich wäre allein mit dir und manchmal ganz allein in den Gassen Istanbuls und könnte mit gleichaltrigen Kindern spielen, mit ihnen Türkisch, Griechisch, Armenisch, Spanisch, Arabisch, Kurdisch, Italienisch, Persisch, Deutsch; Französisch, Englisch und was auch immer, reden, mich mit ihnen prügeln, wenn es mir danach ist, in ihren Sprachen "Rette mich, Mutter", schreien. Wenn ich mit dir an einem Schiff aus irgendeinem Land oder einer fremden Stadt stand, gleich, ob es ein Schiff aus Mudanya war, das Pfirsiche und Äpfel ausgeladen hatte und wartete, um mit Kupfertöpfen beladen zu werden, oder gar ein venezianisches Schiff, das Glaswaren abgeladen hatte und wartete, um beladen zu werden, war mir immer danach, als müsse ich in alle diese Schiffe hinein, manchmal mit Dir, manchmal allein. Ich hätte in allen Gewässern Istanbuls, von denen die Stadt umgeben ist, baden mögen, hätte gern in allen Gärten mit gleichaltrigen Kindern unreife Pflaumen gestohlen und wäre, mindestens einmal in meinem Leben, vom Gärtner für meine Tat geprügelt worden und wäre nach Hause laufen, ja, wäre ich ein Kind des Volkes gewesen, hätte ich obendrein wohl noch Ohrfeigen von meiner Mutter bezogen. Es hätte auch nicht geschadet, wenn ich irgendwo geboren worden wäre, weit weg vom Meer. Ich hätte nie das Wort Meer gehört, meine Eltern hätten vielleicht Schafherden gehabt und wir wären beide zusammen aufgewachsen und hätten Schafe gehütet. Wir hätten unsere kräftigen Hirtenhunde gehabt, die uns und die Herde ständig im Auge behalten hätten, wir hätten schon Anfang April in klaren Bächen planschen können und abends wären wir mit den Hunden und der Herde sicher heimgekehrt.

Ich halte dich heute auf, mein geliebter Lehrer, Lala Mustafa Efendi. Grüße den Dichter von mir. Er wird dir das schon abnehmen, dass ein Verstorbener einfach Grüße an die Lebenden schickt. Glück und Freude seien mit Euch."

Kapitel 11
Gedanken eines Unbekannten:

Selbstverständlich werde ich meinen Namen nicht erwähnen. Angenommen, ich heiße "A"; sagt euch das etwas? Na also. Lassen wir es dabei bewenden. Ich bleibe im Rahmen dessen, was Ferihan erzählt. Sie ist die Frau des osmanischen Geschichtsschreibers, aber das weiß ja nun jeder, übrigens, eine Frau wie eine Zypresse mit der Stimme einer Nachtigall, mit Augen so blau wie das Meer und so weiter. So werden hier Loblieder auf schöne Frauen gesungen, aber so genau kenne ich mich damit nicht aus. Ich habe andere Qualitäten. Ich werde gelobt und belohnt, wenn ich mich an die vereinbarte Geheimstelle begebe und meine Informationen mündlich und von Fall zu Fall verschlüsselt an den Überbringer weitergebe oder welche entgegennehme. Diese Arbeit ist mir weder Last, noch Freude; die erledige ich mit linker Hand nebenbei aber gewissenhaft. Viele Nachbarn dieses mächtigen Osmanischen Reiches wollen wissen, was hier vor sich geht, ob die Entwicklungen der Dinge und Geschehnisse ihnen Gutes oder Unheil bringt oder ob die bisherige Lage mit allen Vorteilen und Nachteilen weiter bestehen bleibt.. Ich werde gut bezahlt und manchmal erfinde ich sogar Ereignisse, die unter Umständen doch geschehen könnten. Diese Art Informationen schüttle ich ohne allzu große Mühe aus dem Ärmel. Es macht mir Spaß, wenn mein Abnehmer glaubt, dass er etwas wichtiges erhält.

Was das alles mit Ferihan Hanim zu tun hat? Ich habe sie im großen bedeckten Basar belauscht, wo sie gerade Tinte und Feder in einem Laden kaufte. Ihr Mann Peçevi Ibrahim Efendi war auch anwesend, als sie sich mit dem jungen Verkäufer unterhielt. Ich sah darin für meine Arbeit nicht direkt nützliche Informationen, dachte aber, warte mal ab, im Verlauf der Entwicklungen ändern sich die Dinge, aus denen ich nützliche Informationen herausholen könnte. So verfolge ich nun den Verlauf all dessen, was diese Frau schreibt und habe mich jetzt eingemischt, ohne der Sache Schaden zuzufügen.

Das sei keine lobenswerte Beschäftigung, wendet ihr ein. Das stimmt nicht ganz; das gab es immer, die Beschäftigung des Spionierens. Weil Menschen nicht immer gescheit sind und sich und anderen, gewollt oder ungewollt Schäden zufügen, wollen sie sich vor anderen Menschen schützen, wer sie auch immer sein mögen. Menschen wollen wissen, was die anderen denn so machen, ob sie an Dingen arbeiten, die im Endeffekt ihnen selbst schaden würden. So einfach ist das also. Es gibt Dinge, die kompliziert aussehen, jedoch sehr einfach sind, wenn man auch die andere Seite der Münze betrachtet. Während meiner Ausbildung als geheimer Informant hatte ich einen sehr gescheiten Lehrer, der die Dinge vereinfachte, um sie für uns Schüler verständlich zu machen. Es gibt kein Geschehen, sagte er, das nur aus einem Grund geschieht. Wenn Du jemandem eine Ohrfeige gibst, ist der Grund nicht der, weil er das irgendwie verdient hat, sondern, weil Du nicht in der Lage bist, an Möglichkeiten zu denken, daran zu arbeiten, dass du nicht zu einem Schläger wirst. Jetzt wirst du ungeduldig. Mit einem Schlag kann man ja die andere Seite total bewegungsunfähig machen! Ja lacht nur. Andere haben das auch gesagt. Eine Weile bist du stolz darauf, dass der andere so gut wie weg ist von der Bildfläche, trotzdem ist dein Kopf nicht frei von Gedanken. Es rumort Tag und Nacht darin, du schwitzt und schläfst wenig und hast sogar Albträume, die dich aus dem Schlaf reißen. Damit musst du leben. Ich füge niemandem ein Leid zu, verfolge nur, was hier in der Hauptstadt der Osmanen geschieht. Irgendwann werde ich wohl diese Stadt verlassen müssen, gewollt oder ungewollt... Sie würde mir sehr fehlen. Es kann aber sein, dass es gar nicht dazu kommt und ich einfach sterbe; wie? Das ist doch nichts besonderes, jedes Lebewesen muss mal dran glauben, ob es will oder nicht. Niemand ist davon ausgenommen. Wenn ich mit diesem Gedanken manchmal Probleme habe, sage ich mir immer: Was allen passiert, ist mir auch recht und schiebe den Gedanken beiseite. Es käme darauf an, ob ich vom Tode überrascht werde. Angenommen, ich werde erwischt, werde angehört und ich erweckte den Anschein, ich hätte nicht alles gesagt, was gesagt werden sollte, dann? Daran will ich gar nicht denken. Wenn ich Glück hätte und gerade an Rudersklaven neuer Bedarf bestünde, würde ich unbefristet bestraft und fände mich auf einer Galeere als Rudersklave wieder. Wenn du in gesicherten Gewässern auf Transportschiffen oder Kriegsschiffen eingesetzt wirst, je drei Sklaven an einem Ruder angekettet, dann hast du Glück. Na? Jetzt könnt ihr sogar nachvollziehen, was das heißt. Habt ihr denn schon erlebt, dass eure Kriegsgaleere im Flottenverband irgendwo da im Mittelmeer von feindlichen Kriegsschiffen in einer finsteren Frühjahrsnacht bei stillem Meer angegriffen wurde. Nicht? Ich habe es selbst auch nicht erlebt, kann mir das aber wohl vorstellen, wie es ist, wenn ich als Rudersklave oder Sträfling so leben müsste. Meine Genossen auf Kriegsschiffen haben Glück, bis zum nächsten Seekrieg. Und im Winter, wo nicht allzu viel Seekriege passieren? Da muss man als Rudersklave in der Regel in Häfen der Kriegsmarine in irgendwelchen feuchten Kasernen mit Ratten und sonstigem Ungeziefer überwintern, um für die nächsten Seeschlachten bereit zu sein. Ich kenne das alles von anderen Menschen, die das erleiden mussten und denke manchmal, obwohl ich selber nicht daran glaube, dass meine Tätigkeit dazu beiträgt, die Misere der Menschen zu mildern, denn manchmal gelangt durch diese Informationen erst das Wissen über den Verbleib von Personen an diejenigen, welche einen Austausch oder eine Ablösesumme möglich machen, und so wendet sich für die Betroffenen alles zum Besseren. Ich mache meine Arbeit, so gut ich kann und genieße das Leben in dieser Stadt und vertraue darauf, dass ich von schlimmen Ereignissen wie Erdbeben, Pest und Feuersbrunst verschont bleibe. Ob ich Familie habe? Erwartet nicht, dass ich euch diese Frage beantworte. Es wäre bereits eine Spur und Spuren sind zu interessant für die, denen ich nicht in die Hände fallen will. Gott bewahre mich vor den Konsequenzen. Ich gehe lieber meinen Vorlieben nach und das sind Bücher. Übrigens Bücher lese ich gern. Ich kaufe sie im Bedeckten Basar. Außerdem besuche ich die Bibliotheken der Süleymaniye- und der Ayasofya-Stiftungen. Dort bin ich hin und wieder Gast, sitze da auf einem warmen Kissen und öffne ein Buch auf dem V-förmigen Lesepult. Ich lese Bücher in osmanischer und in türkischer Sprache. Es sind Geschichtsbücher, Reisebücher, Märchen, Dichtung, Bücher über Medizin, Astronomie, Mathematik, einfach alles, was mir zugänglich ist. Meine Lesegenossen sind Schüler der Medressen in höheren Stufen, Lehrer, alte Männer, ja so manche entlassene, enteignete Paschas und andere Leute. Es ist eine Welt für sich. In diesen Bibliotheken sitzen die Leser auf ihren Kissen und dürsten nach dem Wissen der Zeit. Im Innenhof der Bibliothek ergehen sich die Besucher und flüstern, um niemanden zu stören. Sie unterhalten sich über Gott und die Welt. Da wird oft der Zustand des Landes sehr verschlüsselt besprochen. Diese Leute sagen durch die Blume und tausend geschlossene Türen hindurch das, was sie nicht wagen, offen auszusprechen. Es ist ein Vergnügen, im Hof der Bibliothek zu lauschen. So erfahre ich nicht nur Allgemeines, was ich längst weiß, sondern allerlei Neuigkeiten. Wenn mir dort wichtiges zu Ohren kommt, gehe ich der Sache nach. In Istanbul gibt es, Gott sei Dank, genug Stellen und Quellen, wo auch viel zu erfahren ist, was den Tatsachen nahe kommt. Es ist ja schließlich meine Aufgabe, die Wahrheit ganz oder annähernd zu erfahren, um sie glaubwürdig für den Empfänger zu formulieren. Es ist keine leichte Arbeit; ein Wort zuviel oder zu wenig, ein vergessener Buchstabe oder ein zuviel hinzugefügter und schon gerät die ganze Ernsthaftigkeit der Mitteilung aus den Fugen. Auf solche Weise entstandene Schäden zu beheben, ist Schwerstarbeit. Ein türkisches Sprichwort, welches zumindest von gescheiten Türken strikt beachtet wird, sagt: "Verletzung durch ein Schwert heilt - durch eine Zuge nie." Das gilt auch für meine Arbeit. Mit oder ohne Absicht, eine nicht gut erforschte Neuigkeit im Lande der Osmanen, die daraus hervorgehende mündliche oder schriftliche Mitteilung an meine Auftraggeber muss glaubwürdig sein. Wenn ich Zweifel an einer Sache habe, dann forsche ich weiter. Ich gehe in die Moscheen und schicke meine Vertrauten in Kirchen und Synagogen, um möglicherweise anderslautenden Berichten zu lauschen. Nun, habt ihr auch erfahren, dass ich Helfershelfer habe. Na ja, es sind nicht viele. Das ist kein Thema. Sie spitzen für mich die Ohren auch in Hafenkneipen und Kaffeehäusern, auf Basaren, auf den Plätzen in der Nähe spielender Kinder, in Schulen und Medressen, auf Ruderbooten, Schiffen und Galeeren, die am Hafen warten oder gar unterwegs sind, und ich sehe zu, dass die Informationen fließen. Nun denkt Ihr vielleicht, ich sei ein Mensch, der dem osmanischen Staat und seinen Untertanen Schaden zufügt. Das hängt vom Blickwinkel ab, von dem aus man das Ganze betrachtet. Ich habe da keine Bedenken; dasselbe passiert auf der ganzen Welt. Man will schließlich wissen, was die Nachbarn machen.

Kapitel 12
Sedefkar Mehmet Aga, der Oberarchitekt des Topkapi-Palastes erzählt:

Der Auftrag unseres Sultans Ahmet eine Külliye gegenüber der Ayasofya Moschee zu bauen, war ein schöner Traum, der in Erfüllung ging. So etwas hat die uns bekannte Welt bisher nicht gesehen. Ich war von Anfang an wie besessen an die Sache heran gegangen. Die bis dahin gebauten Projekte ähnlicher Art in Istanbul, Edirne, Manisa, Bursa und anderen Städten hatte ich nach und nach besucht und mir wochenlang die Details angeschaut und Zeichnungen ausgefertigt. Dazu hatte ich im Palastarchiv der Hohen Pforte noch mehr Informationen und Zeichnungen angeschaut, von denen ich ohnehin viele bereits kannte. Nach meiner Einschätzung durfte es keine großen Probleme geben, bis der ganze Baukomplex fertig war. Tatsächlich verlief dann auch alles wie am Schnürchen. Was für mich neu war, war folgendes: ich schlief während der Jahre der Bauzeit in einem halbwachen Zustand; ich träumte viel in Zusammenhängen, weil meine Gedanken direkt oder indirekt immer mit dem Bauvorhaben beschäftigt waren. Morgens, wenn ich wach wurde, war mein Kopf ausgeruht und ich sah mich vor neuen Ideen und Lösungen, über die ich mir vor dem Schlafengehen Gedanken gemacht und Fragen gestellt hatte. Ich schöpfte mehr Mut und Kraft daraus und besprach manche meiner Träume mit meiner Frau Saide, die davon etwas versteht und ihre Meinung dazu sagte. Ich glaube, dass es den mir untergeordneten zwölf Architekten wahrscheinlich ähnlich ging. Was uns manchmal Schwierigkeiten machte, war Verspätung des Baumaterials, wegen Wetter- und sonstigen Hindernissen, was glücklicherweise selten vorkamen. Hier entstand ein neuer Stadtteil, in dem für alle Zeiten, eine Perle in der Mitte Istanbuls steht. Das war allen, vom einfachsten Steinhauer bis zum Sultan bewusst. Das war die Kraft, die uns vorantrieb.

Aber was uns allen ernsthaft Sorge bereitete, war der Gesundheitszustand unseres Sultans, der im Laufe der Jahre nicht besser wurde. Seit er mit 14 Jahren den Thron bestieg, war seine Gesundheit, in Folge einer schweren Pockenerkrankung, für den Rest seines Lebens angeschlagen. Unser Sultan war ein gescheiter Mensch mit Mitgefühl für andere und gerecht zu seinen Untertanen, soweit seine Gerechtigkeit reichte. Aber das Osmanische Reich erstreckt sich vom Indischen Meer bis weit über die Donau hinaus; die Verantwortung und Verwaltung ist dementsprechend schwierig. Paschas und Unterverwalter sind nicht überall und immer der Verantwortung gewachsen, die sie tragen. Deshalb werden häufig ungeeignete Personen abgesetzt oder ausgetauscht. Wer seine Stellung missbraucht hat oder Aufträge nicht ausgeführt hat, deren Erfüllung ihm oblag, konnte mit dem Tode bestraft werden. Vielfach passierten solche Bestrafungen, ohne dass die Wahrheit ganz ermittelt werden konnte. Sicher waren auch deshalb zu Unrecht Bestrafte darunter. Als Oberarchitekt des Topkapi-Palastes bin ich verantwortlich für alle bestehenden und neuzubauenden staatlichen Bauten. Es ist geradezu unvermeidlich, dass ich hin und wider mit Missbrauch, Vernachlässigungen und Wucher konfrontiert werde. Sobald ich davon Kenntnis hatte, sorgte ich dafür, dass die Schäden, die in mehreren Fällen von Lieferanten für Baumaterial oder aber von für die Versorgung der Bauarbeiter mit Lebensmitteln, Bekleidung und Werkzeug Zuständigen verursacht worden waren, durch die Verursacher beseitigt und auf deren Kosten ersetzt wurden. Es gab aber auch Vorkommnisse, dass Lieferanten, die sich schuldhaft verstrickt hatten, mit Geld- und Gefängnisstrafen vom Richter bestraft wurden. Damit war es nicht getan. Sie verloren auch in ihren Berufsvereinigungen die Berechtigung zur Ausübung ihrer Berufe. Das war alles nicht leicht, jedoch konnte ich mich auf die Organe verlassen, die solchen Angelegenheiten nachgingen. Grundlegend ist für mich, dass Istanbul für alles ein Muster ist. Was hier für Menschen getan wird oder unterlassen wird, ist ein Spiegelbild der Gesellschaft und ein Muster für andere Städte. Diese Stadt ist der Liebe wert, ob man darin wohnt oder nicht. Diese Stadt war schon immer begehrt wie ein goldener Apfel. Ich glaube, jeder Mensch, der von dieser Stadt gehört und sie gesehen hat, wird von ihr umarmt und nie wieder losgelassen.

Auf jeden Fall, bin ich glücklich, dass ich meinen Auftrag, abgesehen von Ergänzungsarbeiten, die noch Zeit brauchen, erfüllt habe, doch bin ich traurig, dass unser Sultan uns frühzeitig verlassen hat. Er war ein Herrscher, der seine Menschlichkeit nicht in einem Harnisch versteckte und er hat sehr viel in der kurzen Lebensspanne klug verändert.

Möge der Allmächtige ihm Gnade und Ruhe schenken.

Kapitel 13
Isa Taschkenti erzählt

Als ich vor der Ayasofya sitzend meine Gedichte vor mich hin murmelte, hatte ich Bekanntschaft mit Lala Mustafa Efendi gemacht, dem einstigen Lehrer Sultan Ahmets. Möge der Sultan in Allahs Frieden ruhen. An den folgenden Tagen kamen wir ein wenig ins Gespräch. Einzelheiten unserer Lebensgeschichten haben wir einander jedoch nicht erzählt. Was sollten wir auch bei den mehr oder weniger flüchtigen Begegnungen lang und breit schon reden. Man unterhält sich geistreich über Künste, Architektur und Literatur. Dennoch weiß ich nun, dass dieser Lala Mustafa Efendi aus Buhara stammt. Der Name dieser Stadt geht in meinem Kopf herum wie ein Rührwerk. Ich denke dann an eine andere Stadt im Osten, nämlich an Taschkent. Ich hatte früher einen Lehrer, als ich noch Kind war und in Konya in Mittelanatolien zur Schule ging. Der war aus Taschkent. Er war ein ganz besonderer Lehrer; so einer ist mir nie wieder begegnet. Als Heranwachsender war er in eine schwierige Lage geraten und hatte aus Taschkent fliehen müssen. Einige Male hatte er zwar Andeutungen gemacht, aber ich habe ihn auch nicht direkt zu fragen gewagt. Wer ist denn in seinem Leben nicht in irgendwelche Schwierigkeiten geraten. Das Leben ist doch schwer genug. Es fängt ja schon damit an, wo, wann und in welche Familie und Gesellschaft, unter welchen Umständen man geboren wird. Wir werden nie erfahren, wozu das alles gut ist. Nach meinem Ermessen dürfte es eigentlich gar nichts geben, weder diese Erde noch sonst etwas anderes. Weil es aber so ist, wie es ist, muss man das Leben eben aushalten und mit sich selbst zurechtkommen und mit anderen in Frieden leben. Jedenfalls war unser Lehrer aus Taschkent ein weiser Mann. Er brachte uns alles bei, was man in der Schule lernen kann. Wir waren für ihn einerseits Kinder, mit uns lachte er, als sei er selbst ein Kind, andererseits behandelte er uns auch wie Erwachsene und er genoss all unsere Achtung und Verehrung, deren wir fähig waren. Er war mitfühlend, ohne eine Träne zu vergießen. In seinen Worten war das spürbar. So einer war er. Ich selbst bin ein Waisenkind und glaubte damals, allein durch meinen Lehrer viel vom Leben gelernt zu haben. Ich stellte mir mein Leben anders vor, nicht in den gewohnten Bahnen. Als ich vierzehn Jahre alt war, ließ ich mich in eine Handelskarawane als Kamelpfleger und Kochgehilfe aufnehmen. Kochen hatte ich schon einigermaßen im Waisenhaus in Konya gelernt. So fiel es mir nicht schwer, Kleinigkeiten unterwegs für die Karawanenmannschaft zu kochen, wenn mittags gerastet wurde. Abends war unsere Karawane in der Regel, wenn nichts dazwischen gekommen war, ohnehin in einer Karawanserei, wo Mensch und Tier gut versorgt und sauber untergebracht waren. Unsere Reise-Route war zwischen Konya und der Hafenstadt im Westen. Unsere Waren wie Wolle, Getreide, allerlei einfache Küchengeräte und Webarbeiten wurden abgeladen und Stoffe, Farben, Glaswaren und sonstiges wurde aufgeladen. Manchmal brachten wir die aufgeladenen Waren bis nach Konya und manchmal wurden sie schon unterwegs von den Händlern abgekauft; es kam auch vor, dass wir unsere Reise bis nach Antalya fortsetzten, wenn die Aufträge dem entsprechend erteilt wurden. Ich machte diese Arbeit drei Jahre lang und war zunächst zufrieden, aber bei den Reisen kommt man auch ins Grübeln, wenn die Reisen lange dauern und das Einerlei kein Ende zu nehmen scheint. Eines Tages dachte ich, das könne doch wohl nicht alles sein im Leben. Ich redete mit meinem Kaufmann, als wir wieder in Izmir waren. Er hatte mich immer gut behandelt und bezahlt. Ich sagte ihm, dass ich aussteigen und etwas anderes machen wollte. Er fragte nach meinen Plänen. Eine Antwort lag mir nicht auf der Zunge. Einige Zeit würde ich in Izmir nach etwas anderem Ausschau halten müssen, sagte ich. Ich war froh, dass Resul, mein Kaufmann, dafür Verständnis hatte, weil er früher selbst abenteuerliche Wege gegangen war. Er sagte mir, falls ich je Hilfe brauchen sollte, wann und welcher Art auch immer, sollte ich mich blicken lassen. So blieb ich einige Tage in Izmir in einer Herberge und fand am Hafen eine Arbeit auf einem Schiff, das zwischen Izmir und Alexandria Güter transportierte. Da ich jung und kräftig war, heuerte man mich gerne an. Außerdem verstand ich etwas vom Kochen und fürchtete mich nicht vor dem Meer. Der Kapitän, ein Grieche von der Insel Kreta, war ein erfahrener Mann. Die Mannschaft bestand aus osmanischen Muslimen, Christen, Juden und andersgläubigen Menschen. Insgesamt waren wir zwei Duzend Leute. Unser Schiff warf Anker an kretischen und zyprischen Häfen, wo ich nach der Erledigung meiner Arbeiten mit einigen Matrosen Landgang hatte und mich deshalb ein wenig unter die Leute mischen konnte. Im Hafen in Kairo und Izmir blieb unser Schiff in der Regel wegen der Warte-, Liefer- und Aufladezeiten, meistens länger als vorgesehen. Es war nicht leicht, in knapper Zeit immer geeignete Fracht zu finden. Die Konkurrenz schlief nicht und der Kapitän feilschte um ordentliche Preise. Ich war damals schon zwei Jahre auf dem Schiff, als ich wieder in Alexandria bei dem christlichen Schneider im Laden vorbeischauen wollte, bei dem ich einige Näharbeiten für mich und einige meiner Kameraden in Auftrag gegeben hatte und an einem Samstag am späten Nachmittag dort die fertigen Sachen abholen ging, war der Laden geschlossen. Auf Nachfrage bei Nachbarläden, sagten mir die Leute, dass der Schneider am Vortage in der Frühe gestorben sei. Ich ließ mir den Weg zum Hause des Schneiders beschreiben, das nicht weit von dort war und begab mich dorthin. Als ich vor dem kleinen Garten des einstöckigen bescheidenen Hauses ankam, begegneten mir einige Frauen und Männer, die aus dem Hause kamen. Ich kramte meine arabischen Sprachbrocken aus dem hintersten Winkel meines Gedächtnisses und fragte sie, ob die Trauerzeremonien zu Ende waren. Sie hatten mich verstanden und sagten, dass der Verstorbene bereits am frühen Nachmittag bestattet worden war. Es seien jetzt nur noch wenige Trauergäste im Hause bei seinen Hinterbliebenen. Ich ging zum Hause, das aus zwei ineinander verschachtelten Zimmern bestand; in der Mitte gab es eine winzige Diele in der mir eine ältere Frau entgegenkam. Ich erinnerte mich, dass ich sie einmal flüchtig im Laden des Schneiders im hinteren Raum hatte sitzen sehen. Sie erkannte mich wieder. Ich kondolierte ihr und wünschte ihr Geduld. Ich brauchte gar nichts weiter sagen, sie schien mein eigentliches Anliegen zu vermuten und bat mich, Platz zu nehmen. Ich setzte mich ein wenig beiseite, denn es waren noch drei Frauen im Raum, die wohl zu den Angehörigen zählten, denn sie waren sehr bekümmert und hatten rotgeweinte Augen.

Mir wurde eine Tonschale mit kühlem Wasser gereicht, das mit Ysop gewürzt war und mich erquickte. Als ich dankte und gehen wollte, gab mir die Witwe als Begleitung bis zum Laden eine der Frauen mit, der sie den Schlüssel reichte. Ich gab also der Witwe das Geld für die Näharbeiten; sie nahm das Geld und beschrieb, welche Sachen mir ausgehändigt werden sollten und wo sie zu finden seien. Die Frau hatte mehr oder weniger den Laden mit ihrem verstorbenen Mann gemeinsam geführt und wusste offenbar über alles bescheid. Ich wünschte nochmals Seelenheil für den Verstorbenen und drückte allen mein Beileid aus, als ich mich verabschiedete. Wir machten uns zu zweit auf den Weg. Unterwegs redete ich mit meiner Begleiterin. Ich weiß nicht mehr, wie wir darauf kamen, jedenfalls erzählte sie, dass ihre Mutter eine Istanbulerin war und bei einer Fehlgeburt gestorben sei und dass ihr Vater, der Unteroffizier des Paschas von Ägypten gewesen sei, bei einem Streit aufgebrachter Soldaten, während des Versuches den Streit zu schlichten, ums Leben gekommen sei. Daher sei sie in einem Waisenhaus aufgewachsen. Ihren Lebensunterhalt verdiene sie mit Näharbeiten, indem sie zu einigen Näherinnen in die Häuser gehe. Ich wagte es, meiner Begleiterin in die Augen zu schauen. Sie war jung, mochte etwa siebzehn Jahre alt sein und hatte nussbraune Augen. Sie war hübsch, noch niemandem versprochen und hieß Rabiye. In der Kürze der Zeit hatte ich von Rabiye mehr erfahren, als wenn wir als Nachbarn nebeneinander gewohnt hätten, meinte ich und irgendwie fühlten wir uns einander nahe. Ich fragte sie, ob sie Istanbul gerne sehen würde. Ich hatte den Eindruck, dass sie auf so eine Frage gewartet hatte. Dann erzählte sie, dass sie wohl noch Verwandte mütterlicherseits in Istanbul im Stadtteil Aksaray habe. Ich erhielt die fertigen Sachen, die im Laden sorgfältig bereitlagen und schlug Rabiye vor, mich am nächsten Tag um die gleiche Zeit im Hause der Witwe des Schneiders zu erwarten; wir betrachteten einander als Verlobte, als wir auseinander gingen. Die Kleider über dem Arm eilte ich zum Schiff. Ich sprach mit meinem Kapitän, sagte ihm, dass ich mich verlobt habe und meine Verlobte nach Izmir mitnehmen wolle. „Na gut", sagte er, „Seeleute zögern nicht. Es ist nichts natürlicher, als eine Familie zu gründen." Rabiye mit den nussbraunen Augen gefiel mir gut und sie mochte mich gern. Kurzum, ich ging am nächsten Tag zur verabredeten Zeit zum Hause der Schneiderwitwe und in zwei Stunden etwa packten wir all ihre Sachen, es war gerade nur so viel, dass wir alles selbst tragen konnten. Wir verabschiedeten uns von ihren Bekannten, die ein paar Freundschaftstränen vergossen, wie sie beim Abschied lieber Menschen eben fließen. Andererseits waren sie aber froh, dass Rabiyes Herzenswunsch nach einem besseren Leben in Erfüllung gegangen war. Sie gaben Rabiye zum Abschied und als Erinnerung kleine Geschenke, Amulette mit Krebskrallen und blauen Glasperlen gegen böse Blicke und kleine silberne Ohrringe und versprengten hinter uns mehrere Schüsseln Wasser auf die Erde für ein glückliches Wiedersehen.

Auf dem Schiff fand ich für Rabiye einen Platz, eine Ecke unter dem hinteren Deck, auf dem noch zwei Frauen mit ihren drei Kindern, die im Alter von fünf bis sieben Jahren waren, Platz genommen hatten. Sie fuhren zu ihren Verwandten nach Izmir. Unsere Reise verlief ohne besondere Vorkommnisse und nach etwa zwei Wochen ankerte unser Schiff in Izmir. Dort verabschiedete ich mich von meinem Kapitän und meinen Kameraden. Der Kapitän zahlte mir meine Heuer für die letzten drei Monaten und legte noch was darauf als Geschenk zur Hochzeit, die irgendwann sicher stattfinden würde. Auch meine Kameraden steckten mir ein Geldgeschenk in meine Westentasche. Es war der in Goldmünzen eingetauschte Geldbetrag, den sie untereinander gesammelt hatten. Wir hatten Glück. Noch am gleichen Tag fanden wir ein Schiff nach Istanbul. Es war ein größeres bequemes Schiff und ich hatte die Reise, die nicht teuer war, bezahlt. In einer nachts mit schweren Vorhängen getrennten Ecke unter dem Vorderdeck liebten wir uns zum ersten Mal. Es war fast Vollmond und er leuchtete in dieser Nacht. Ich habe eine Frau! Ich bin ein Glückspilz! Das waren meine Gedanken.. Das Schiff fuhr in Sichtweite zum Land Richtung Istanbul. Gegen Morgen mit dem ersten Tageslicht wachten wir auf. Ich hatte genügend zum Essen und zum Trinken mitgenommen und bereitete schnell Frühstück und machte Salbeitee mit dem hießen Wasser, das auf dem oberen Deck, mit Holzkohle für alle auf dem Schiff schon vorbereitet war. Es war das erste Mal, dass ich nicht arbeiten musste, sondern reiste, um des Reisens willen. Ich hatte eine sanfte Frau mit schönen Augen. Wir würden in Istanbul beide gemeinsam unser Leben in die Hand nehmen. Wir waren zuversichtlich. Ich hatte von Istanbul schon so viel gehört, dass die Beschreibungen dieser Stadt in meinem Kopf schöne Bilder und Musik erzeugte, wenn ich die Augen schloss. Rabiye konnte von ihrer Mutter her ein paar türkische Worte und wir übten fleißig während unserer Reise, so dass sie nach den zehn Tagen bereits sehr viel von mir gelernt hatte. Allah sei Dank, dass meine Wünsche in Erfüllung gegangen sind und ich meiner Rabiye begegnet bin. Wir würden schon in Istanbul Wurzel schlagen und miteinander glücklich sein, dafür wollte ich sorgen.

Istanbul grüßte uns an einem sonnigen Morgen mit Hunderten Kuppeln und Minaretten. Über der Meerenge schimmerten die Gebäude des Topkapi-Palastes im Grün der Gärten wie Kleinodien, die Meerenge lag glitzernd und um den Leuchtturm schwappten stetig die Wellen. Die Türme der mächtigen Stadtmauern, die grünen Hügel, die zahlreichen Schiffe, die farbigen, ein- bis zweistöckigen Häusern in kleinen Gärten ließen unsere Herzen schier überquellen vor Freude, am Ziel zu sein. Rabiye war so beeindruckt, dass sie auf die Knie sank und mit ihrer Stirn die Schiffsplanken berührte und auf Arabisch einige Sätze murmelte. Ich verstand zwar nicht, was sie gesagt hatte, wollte aber den Zauber dieses Erlebnisses auch nicht stören. Ich schloss die Augen und lauschte meinem Atem. Ich hatte noch nie so intensiv gefühlt, dass ich lebe und ich war das erste Mal in meinem Leben dankbar, dass ich überhaupt geboren worden war. Mein griechischer Kapitän, von dem ich mich in Izmir verabschiedet hatte, war in Istanbul geboren und hatte lange Jahre in Istanbul gelebt, der hatte mir gesagt, mit Istanbul solle ich vorsichtig umgehen, es sei eine Stadt schön und barmherzig wie eine Mutter. Sie werde uns aufnehmen und die weltoffenen Menschen in dieser Stadt werden wir gewiss lieben.

Unser Schiff legte am Goldenen Horn an. Als wir das Schiff verließen, zupfte Rabiye ihren Schleier zurecht. Wir trugen die Habe an Land und gaben sie in Gewahrsam, weil wir erst unsere Bleibe suchen mussten. Den Weg nach Aksaray konnten wir nicht verfehlen, aber wir liefen zu Fuß, um Geld zu sparen, wir würden sehr sparsam mit unserem kleinen Vorrat umgehen müssen. In Aksaray angekommen, holte Rabiye ein gefaltetes Schriftstück hervor und wir zeigten es in einer Wachstube. Der Wachmann erklärte uns den Weg und gestikulierte dabei, als ob er eine Karawane in eine Karawanserei einweise, aber wir hatten verstanden und konnten den Rest des Weges selbst finden. Glücklicherweise war Rabiyes Mutter rechtzeitig eingefallen, ihrer Tochter diese wichtigen Angaben aufzuschreiben, als sie merkte, dass es nicht gut um ihre eigene Gesundheit stand. Vielleicht hatte sie auch geahnt, dass Rabiye eines Tages versuchen werde, bei ihren Verwandten in Istanbul unterzukommen. Das Haus stand an einem Hang in einem kleinen Garten, von wo aus das Marmarameer, die Stadtmauer und Gärten zu sehen waren. Die Begegnung mit Rabiyes Verwandten war für alle Seiten überraschend und herzlich. Da waren eine alte Tante, etwa um die Sechzig, die einen Sohn ungefähr in meinem Alter hatte, der aber nicht zuhause war, dessen Frau und sein Töchterchen und sein Söhnchen, die zwei und vier Jahre alt waren.

Soweit Rabiye in der Lage war, hat sie sich schon ganz gut verständigen können; natürlich würde sie noch eifrig lernen müssen, aber es würde ihr keine Schwierigkeiten bereiten, das hatte ich bereits auf dem Schiff gemerkt, als wir geübt hatten. Nach der herzlichen Aufnahme wurden uns im Erdgeschoss zwei Zimmer mit Küche und separatem Eingang, überlassen. Bis wir anderweitig wohnen konnten, würde die gesamte Familie in sämtlichen übrigen Räumen des Hauses etwas zusammenrücken. Das war schon mehr als Glück.

Am Abend kam der Sohn der Tante heim. Er heißt Rahim und ist wohl drei-vier Jahre älter als ich. Die Überraschung war groß, eine Verwandte aus Alexandria begrüßen zu können. Gleichzeitig bedauerte er das Schicksal der verstorbenen Eltern von Rabiye, von dem er gar nichts gewußt hatte. „Aber wozu hat man schließlich Verwandte und Freunde. Es ist doch wünschenswert, dass man sich je im Leben begegnet und einander hilft. Ihr beide seid uns herzlich willkommen", sagte er. Am ersten Abend in der Familie, als wir alle uns zu einem Abendessen niederließen und die Schüsseln mit den Speisen dampften und einem vor Appetit das Wasser im Munde zusammen lief, redete ich hauptsächlich, denn ich versuchte kurz und verständlich unser beider Leben, das doch erst frisch zusammengekommen war, den Angehörigen zu erläutern. Wir sollten erst einmal ausruhen und uns von der beschwerlichen Reise erholen, sagten sie, dann werde man weiter sehen. Nach den Wünschen für angenehme Nachtruhe zogen wir uns in unsere Zimmer zurück und ergründeten das Geheimnis der Wandschränke. Darin fanden wir die notwendigen Bettlager, die mit Schafwolle dick gestopft waren und die wir auf dem Teppich ausbreiteten. Es gab genug Kissen und Steppdecken, es mangelte an nichts. Die Sachen dufteten herrlich frisch gewaschen nach Seife und nach dem Pinienholz, aus dem die Schränke waren. So schlüpften wir kurz nach den Gebetsrufen der Muezzine zum Nachtgebet ins Bett.

Wir holten anderntags unsere Habe, die wir am Hafen hatten aufbewahren lassen und brachten sie nach Hause.

Wir hatten also vorerst ein Heim, aber ich wollte, dass die Familie nicht durch uns Schaden nehme und bat, die Miete gutschreiben zu lassen, damit wir sie so bald als möglich entrichten könnten, obwohl sich die Verwandten von Rabiye dagegen wehrten. Anfangs fürchtete ich, Rabiye könne vielleicht Schwierigkeiten bei der Eingewöhnung in Istanbul haben, aber meine Befürchtungen waren unbegründet, wie sich herausstellte. Das Meer von Alexandria scheint ihr hier nicht zu fehlen. Hier gibt es so viele Gewässer durch die besondere Lage der Stadt am Goldenen Horn, dem Bosporus und dem Marmarameer, und das Schwarze Meer ist auch nicht weit. Was will man mehr. Wir konnten aus dem Fenster unseres Zimmers, das am Hang lag, bei klarem Wetter bis zu den Prinzeninseln im Marmarameer sehen. Zunächst verbrachten wir noch die Zeit zu Hause und gingen gemeinsam für unseren Haushalt in Aksaray Einkäufe machen. Es waren Lebensmittel, Gewürze, Öl, Holzvorrat, Seife, für die wir nicht viel bezahlten. Kochgeschirr und sonstige Haushaltgegenstände hatten wir genug in der Wohnung. Die Gegenstände in der Wohnung waren Hinterlassenschaften der Großeltern, die von ihrer Pilgerreise nach Mekka vor drei Jahren nicht heimgekehrt waren, weil sie unterwegs krank geworden, gestorben und in der Fremde begraben worden waren. Ich ging mit Rabiye in der Umgebung spazieren. Wir konnten uns einigermaßen zurechtfinden und schauten uns Häuser, Gärten und Gassen an, auf denen Kinder spielten. Auch wir würden eines Tages Kinder haben.

Unsere Erkundungen wollten kein Ende nehmen, weil die Stadt so groß war, dass man sie nicht einmal in einem Menschenleben gänzlich erkunden kann. Wenn wir hier alt werden, werden wir trotzdem immer neue Überraschungen erleben und werden uns nie langweilen.

Am dritten Tag nach unserer Ankunft nahm Rahim mich früh morgens mit zu seinem kleinen Drechsler-Laden in Tahtakale hinter dem Fischmarkt am Goldenen Horn. Rahim hatte mir gegenüber angedeutet, dass er gute Beziehungen zu anderen Ladenbesitzern, die Schiffsbedarf verkauften, habe und mir helfen könne, eine einträgliche Arbeit auf einem Handelsschiff zu finden. Das wäre für mich eine gute Gelegenheit, schnell zu Geld zu kommen, was ich natürlich sehr begrüßte. In Rahims kleiner Laden-Werkstatt arbeiteten außer ihm noch drei junge Männer, die verschiedenste gedrechselte Teile für Landwirtschaftsgeräte, für den Haushalt, Geländersprossen und Holme, Sichtschutzschirme und sonstiges herstellten. Die Sachen wurden direkt an Verbraucher verkauft. Die Mitarbeiter wurden ordentlich für ihre Arbeit bezahlt. Rahim zahlte Miete für den Laden. Nach Abzug sämtlicher Ausgaben für Material, Arbeiter und Miete blieb ein bescheidenes Einkommen für Rahim übrig. Jedenfalls war es nur so viel, dass er davon keine Reichtümer würde anhäufen können. Ich dachte bei mir, dass ich so schnell wie möglich eine Arbeit annehmen werde, damit nicht Rabiye und ich der Familie auf der Tasche liegen. Rahim machte am Vormittag bei einigen Bekannten seines Umfeldes die Runde. Es gab zwar am Hafen auch Vermittler für Seeleute, aber er war überzeugt, dass für mich durch seine Bemühungen etwas günstiges herausspringen werde. Er kannte ja die Leute. Er wusste, auf wen er sich verlassen konnte. Rahims Suche war erfolgreich und wir gingen zu einem zweistöckigen Geschäftshaus am Hafen, in dem verschiedene Großhändler und Vermittler für alles mögliche in Sachen Einfuhr und Ausfuhr und Personal-Vermittlungen ihre Geschäftsräume hatten. In einem dieser Läden wurde ich registriert und für ein Handelsschiff als Seemann mit der dazu gehörenden Erfahrung, probeweise angeheuert. Das Handelsschiff, auf dem ich arbeiten sollte, gehörte zu einer Handelsflotte eines gewissen Kapitän Arif, der aus Samsun am Schwarzen Meer stammte und dessen Schiffe, wohl ein Duzend, überwiegend die Routen der Mittelmeer-Küsten befuhr. Die Routen waren nicht ganz ungefährlich, jedoch verdienten die Seeleute mehr als auf anderen Strecken. Das war für mich ein Anreiz. Ich begann drei Tage später auf einem der Schiffe als Helfer des Steuermannes.

Das Schicksal hatte mit mir noch einiges vor.

Kapitel 14
Rabiye erzählt

Als mein lieber Mann Isa Arbeit auf einem Handelsschiff gefunden hatte, sah ich unsere Zukunft in Istanbul als gesichert an. Ich fühlte mich hier, wo meine Mutter geboren wurde und bis zu ihrer Heirat gelebt hatte, schnell heimisch. Nur musste ich sehen, dass ich in langen Abwesenheiten meines Mannes die Zeit sinnvoll zu nutzen und mich zu beschäftigen wusste. Wir hatten uns zwar gefunden, waren ein Paar geworden, liebten einander und hatten die Treue geschworen, aber das ist keine Garantie für dauerndes Beisammensein. Der Kampf um Selbsterhaltung trieb uns gleich wieder auseinander. Für die Dauer meines Ausharrens bis zum Wiedersehen würde ich arbeiten und mich schon allein zurechtfinden. Immerhin würde ich keine Not leiden. Außerdem hatte ich Verwandte, ich war zwar allein aber nicht einsam.

Es fügte sich glücklich, da ich nicht weit entfernt eine Arbeit in einer Stoffdruckerei fand, die in der Nähe des Platzes ist, wo das Fleisch vom Schlachtvieh gehandelt wird. Der Platz grenzt an den Hauptplatz in Aksaray. So lernte ich eine für mich neue Arbeit und neue Menschen kennen. Seither arbeite ich dort als Druckerin.
Die Stoffe werden mit geschnittenen Lindenholz-Formen von Hand bedruckt, was gutes Augenmaß und viel Geschicklichkeit erfordert. Ich habe mich in kürzester Zeit für diese Arbeit als geeignet erwiesen und bilde seit langem junge Mädchen und Frauen aus. Die Formen aus Lindenholz und viele der Farben werden in unseren Werkstädten hergestellt. Wir sind insgesamt vierzig Frauen in dieser Manufaktur. Die Stoffe, die wir bedrucken, sind aus den unterschiedlichsten Materialien und in Feinheitsgraden sortiert, manchmal sind sie hauchdünn und durchscheinend, sind einfach aus Baumwolle glatt gewebt oder aus Leinen, können aber auch teuerste Seide aus Bursa und anderswoher sein. Die Manufaktur gehört Zümrüt Gelin. Sie ist in jungen Jahren Witwe geworden. Ihr Mann, der Inhaber der Stoffdruckerei, soll ein recht zarter, empfindlicher Mann gewesen sein, der, als er heftig krank wurde, die Krankheit nicht überstanden hat. Die Werkstatt ist bereits in dritter Generation in den Händen der Familie.

Wir drucken überwiegend Blumenmotive. Die bedruckten Tücher und Stoffe werden direkt durch die Manufaktur an Großhändler verkauft. Sie werden je nach Art und Qualität, für Kleidung, für Kopfbedeckungen, für gesteppte Gebetsteppiche, Kissenbezüge, Steppdeckenoberseiten und unzählige andere Sachen verwendet. Wir verwenden Farben, die aus Wurzeln, aus grünen Nussschalen, aus Samen, aus Blättern, aus Harn, von Schildläusen, von Purpurschnecken und anderen Rohstoffen gewonnen werden. Manche Farben können wir nicht selbst herstellen, die müssen wir im Basar kaufen, weil sie über lange Handelswege bis nach Istanbul gebracht werden. Wir haben für die Farbherstellung Mühlen, in denen getrocknete Rohstoffe von den Männern zerkleinert werden. Für den Färbevorgang, soweit sie nicht den Musterdruck betreffen, benutzen Männer riesige Färberbehälter, die von unten beheizt werden können. Für den Musterdruck haben wir Frauen Spannrahmen in langen Bahnen und kleinere für maßgenaue Teilflächen. Die bedruckten Stoffe werden, nachdem sie im inneren Hof der Manufaktur auf Trockenstangen getrocknet sind, zum Waschen im Meer nach Yenikapı zum Ufer transportiert. Nachdem sie dort gründlich von uns Frauen ausgewaschen worden sind, werden sie zurück zum Trocknen in den Hof der Manufaktur geschafft und wieder auf Stangen gehängt. Wenn die Stoffe fertig sind, werden sie gebügelt und nach Längen und Mustern sortiert. Die Arbeit macht mir Spaß. Für die Musterschnitzerei habe ich auch schon einige Motive vorgeschlagen, bei denen ich an Dattelpalmen und Blumen in Alexandria gedacht habe. Diese zierlichen Muster sind auch bereits geschnitzt und gedruckt worden. Natürlich sind die Motive stark stilisiert und nicht ganz naturgetreu aber den Kunden gefallen meine Muster.

Ich lernte die türkische Sprache sehr schnell sprechen und konnte bald auch gut lesen und schreiben. Nach einem Jahr hier in Istanbul war ich so weit, dass ich anderen zur Unterhaltung Märchen erzählen konnte. Das es nun gerade Märchen waren, die ich erzählen konnte, lag daran, dass ich in einem der Wandschränke in einem unserer Zimmer ganz versteckt in einem Winkel, mehrere Packen Bücher gefunden hatte. Als ich die Verwandten fragte, was es mit den aufgehobenen Büchern auf sich habe, erzählten sie mir, dass die seligen Eltern diese Bücher einst als Hinterlassenschaft von jemandem bekommen hatten, der auch wohl ein Verwandter gewesen sei, den sie aber selbst nicht gekannt hatten.
Wenn ich von meiner Arbeit nach Hause kam, machte ich mir etwas zu Essen, erledigte die üblichen Arbeiten und las danach in den Büchern, die mich in mir bis dahin unbekannte Länder und Landschaften versetzten und in denen die dortigen Menschen, Bauten, Pflanzen und Tiere und das Leben beschrieben waren. In einem waren so viele Märchen gesammelt und alle hatten merkwürdigerweise immer eine Fortsetzung. Ich hätte tausendundeine Nacht an einem Stück lesen mögen, so sehr genoss ich die Welt, die sich in meinen Gedanken entfaltete, bis ich mich erinnerte, dass meine Mutter mir manche Märchen schon als Kind erzählt hatte und ich hatte hier ein Buch in leicht verständlichem Türkisch vor mir. Ein anderes Buch war sehr sorgfältig mit bester schwarzer Tinte geschrieben und hatte insgesamt zwanzig farbenprächtige Miniaturen. Ich hatte in meinem Leben noch nie so ein schönes Buch gesehen. Die Freude darüber empfinde ich noch heute. Das Buch musste für einen besonderen Anlass geschrieben worden sein, dachte ich mir. Ich begann es dann sehr sorgfältig zu lesen und achtete darauf, dass es keine Flecken bekam und die Seiten nicht geknickt wurden. Meine Verwandten im Hause erinnerten sich gar nicht daran, dass sie jemals vorher dieses Buch gesehen hatten, als ich es Ihnen zeigte. Sie freuten sie sich zwar, aber sie haben wenig Beziehung zu Büchern und wussten selbst nichts damit anzufangen, deshalb sagten sie mir, es sei sicher bei mir in besseren Händen, als wenn es bei ihnen ungelesen im Schrank liege. Sie schenkten mir das Buch und wünschten, dass es mir Vergnügen bereite. Sie meinten, ich könne ja davon erzählen, wenn ich es gelesen habe, was ich ihnen versprach.

Ich las also in meinem Buch und merkte, dass nicht jede Geschichte geeignet war, um sie Kindern und gleichzeitig den Erwachsenen zu erzählen. Manche waren recht unverblümt, so dass sogar ich in meinem heimlichen Stübchen vor Scham heiße Ohren bekam. Wenn ich Geschichten aus diesem Buch erzählen würde, müsste ich vorab eine Auswahl treffen und mir überlegen, wie ich diese Geschichten interessant machen konnte. Ich verschlang das Buch, ich wurde zu jeder Figur, die darin vorkam. Es war, als würde ich mit allen Wassern der Welt gewaschen, so sehr tauchte ich ein in das Leben, welches durch das geschriebene Wort in meinem Kopfe entstand. Wenn ich von der Arbeit ermüdet heimkam, erledigte ich meine häuslichen Tätigkeiten, die aber nicht lange dauerten, weil ich allein lebte, und dann nahm ich mir die Bücher vor. Insgesamt waren es fünfundvierzig Bücher, die ich nach der Reihe las. Ich ließ mir Zeit und genoss die schöne Sprache, die ich mit fast 18 Jahren so gut gelernt hatte. In Istanbul fehlte mir nur mein Isa. Stets war mein Gedanke, wo er wohl gerade mit dem Schiff unterwegs war. Das Leben läuft aber nie wie am Schnürchen, ich musste es nehmen, wie es war.

Kapitel 15
Isa Taskenti erzählt

Ich hatte also mit meiner Frau Rabiye in Istanbul von heute auf morgen fußgefasst. Wir hatten eine hübsche Wohnung, sogar ein winziger Garten war vor dem Eingang. Alles, was wir uns gewünscht und darüber hinaus nicht einmal geträumt hatten, ging in Erfüllung. Rabiye hatte eine Arbeit, die sie gerne machte und unsere Nachbarn waren hilfsreich, wenn Hilfe nötig war und Rabiye half, wenn sie gebraucht wurde. Ich war mit meiner Arbeit überaus zufrieden. Abgesehen davon, dass Rabiye und ich uns alle vier bis fünf Wochen sahen, betrachteten wir die kleinen Trennungsschmerzen als vorübergehend; ich konnte hoffen, in ein oder zwei Jahren auf eine andere Route zu wechseln, wobei dann meine Abwesenheit jeweils nur ein paar Tage ausmachen würde. Ich arbeitete dann tatsächlich drei Jahre auf demselben Schiff, arbeitete mich gründlich ein und gewann das Vertrauen des Kapitäns, dessen Helfer ich mit der Zeit wurde. Ich verdiente gut und es kam vor, dass ich Kapitän Tahir an Bord vertrat, wenn er aus irgend einem Grunde vertreten werden musste, weil er sich zum Beispiel wegen der Einfädelung von Geschäften an Land für Tage aufhielt. Somit war ich auf dem Schiff die zweitwichtigste Person. Alles, was zu verantworten war, musste ich auf meinen Schultern tragen. Die Insel Malta gehörte mit zu unserer Route. Wir brachten verschiedene Waren aus Istanbul und anatolischen Häfen dorthin, um von dort die wegen ihrer Qualität und Schönheit begehrten Kalkstein-Platten zu transportieren. Sie waren sehr preisgünstig und wurden in Palästen, in öffentlichen Bauten, in Moscheen und Stiftungsbauten verwendet. Der Mannschaft unseres Schiffes gefiel auch diese Route, denn wir wussten genau, welche Arbeit auf uns zukommen würde und was wir abladen und aufladen würden. Unser Verdienst war gut. In den Gewässern kreuzten zur Sicherheit Schiffe der osmanischen Marine, was unsere möglichen Bedenken vor solch einem Unternehmen gleich beiseite schob, weil wir darauf vertrauten, dass die Beobachtungsschiffe und das Informantennetz des osmanischen Staates schlimme Übergriffe von Korsaren verhindern werde. Piraten trieben ihr Unwesen, unabhängig davon, an welchen Küsten sie zu Hause waren und welche Sprachen sie sprachen. Mitglieder der Besatzung, die von Begegnungen mit Piraten erzählten, sagten dass die Korsaren ein bunt gewürfelter Haufen seien, von allen möglichen Inseln und Küsten stammten und sie sich untereinander einen geradezu babylonischen Sprachschatz angeeignet hätten, den kein Fremder verstehe, sie aber untereinander sich merkwürdigerweise verstünden. Es sei wie eine Geheimsprache. Es sei schon vorgekommen, dass sie Menschen, die sie entführt hatten, bei Bedarf zu Korsaren gemacht hatten. Sie seien an Beutegut, an jungen Frauen und arbeitsfähigen Männern interessiert, die sie von aufgebrachten Handelsschiffen in Besitz nehmen. Geeignete junge Männer, die in ihre Hände fielen, würden sie von Fall zu Fall sogar zu Beutezügen mitnehmen, ihnen kleine Aufgaben geben, sie an Beute beteiligen und somit das Gefühl vermitteln, es gebe für sie nur dieses Leben, riskant doch ergiebig.

Inzwischen ist viel Zeit vergangen. Neun Jahre ist es schon her. Wir waren in den Gewässern vor Malta. Unser Schiff hatte bei günstigen Westwinden vor dem Güterhafen vor La Valletta Anker gelichtet, denn wir hatten bereits die Last von Malta an Bord, überwiegend die leichtgelben Malta-Steinplatten, die in Istanbuler Häusern als Bodenplatten sehr begehrt waren. Außerdem hatten wir noch andere Waren an Bord, unter anderem mehrere Ballen schwerer Seidenstoffe, die wir im Auftrag eines Seidenhändlers aus Istanbul, abgeholt und bezahlt hatten. Malteser und Osmanen pflegten schon seit langem friedlichen Umgang miteinander. Jede Seite ließ die andere Seite in Ruhe, da es für beide Seiten von Vorteil war, wenn der Handel florierte. Offensichtlich war durch eine Lücke im Sicherheitssystem an einem Abend dennoch ein Piratenüberfall auf unser Schiff möglich. Als wir erkannten, dass wir den Überfall nicht mehr verhindern konnten, war es für Gegenmaßnahmen bereits zu spät. Die Räuber kamen mit drei kleineren Schiffen, die zahlreiche Ruderer hatten. Die Schiffe waren wendig und sehr schnell. Wir wurden umzingelt. Unser Schiff war auf Westwinde angewiesen und fuhr ziemlich langsam. Die Piraten feuerten mit Vorderladern auf unser Schiff, zielten aber nicht auf unsere Leute. Für sie waren nur Lebende von Wert. Für ihre Auftraggeber wollten sie Gefangene machen, die auf nordafrikanischen teils offenen, halbgeduldeten Sklavenmärkten verkauft werden konnten. Möglicherweise schaffen sie uns direkt zu ihrem Auftraggeber und wir landen als Rudersklaven auf irgendwelchen Kriegsschiffen, schoss es mir durch den Kopf, als wir umzingelt wurden. Da unsere Lage aussichtslos war, weil wir zu unserer Verteidigung kaum Waffen hatten und von Gefechten keine Ahnung hatten,

entschied sich unser Kapitän Tahir dafür, dass wir uns ergeben. Die Einzelheiten, wie die Beschlagnahme vor sich ging, möchte ich mir lieber ersparen. Die Piraten nahmen unser Schiff und uns alle in ihre Gewalt, allein fünfzehn Leute ketteten hinten beim Steuerruder hoch, diese setzten sich zu unseren Ruderern, um die Geschwindigkeit des Schiffes zu erhöhen, denn der Wind war schwach und reichte nicht aus. Es kam aus ihrer Sicht darauf an, so schnell wie möglich aus den für sie gefährlichen Gewässern zu verschwinden. Wir vermuteten; sie würden uns zu irgendeinem afrikanischen Sklavenmarkt bringen. Aber sie brachten uns nach zehn Stunden, als der Morgen schon graute, zu einem Kriegsschiff auf offenem Meer. Dort wurden wir umgeladen und an die Ruderbänke festgekettet. Wir merkten, das es ein venezianisches Schiff war. Allah möge unser Los erleichtern, beteten wir still. Wie war das möglich? Seit mehreren Jahren war Frieden zwischen Venezianern und Osmanen und dennoch konnte solcher Menschenraub geschehen. Stillschweigend wurde hier Menschenhandel wegen Rudersklaven und sonstiger Sklaven betrieben; es habe sich weltweit nichts geändert, sagten die Leute.

Offenbar ist es billiger einen Sklaven an eine Ruderbank zu ketten und wenn er die Strapazen nicht lange durchhält, bei der Mindestversorgung krank wird und stirbt, findet sich schnell Ersatz, der ebenso billig ist. Offenbar sind Rudersklaven billiger als besser ausgerüstete Segelschiffe. Segelschiffe haben bloß den Nachteil, dass sie auf Wind angewiesen sind. Deshalb sind Rudersklaven ein fester Bestandteil des Transport- und Kriegsschiffsystems. So lange sich in dieser Hinsicht nichts ändert, wird es Piraten geben.

Obwohl wir auf ein venezianisches Kriegsschiff geraten waren, hatten wir Glück im Unglück, denn der Kapitän des Schiffes war kein Unmensch. Er hatte auch für uns Rudersklaven noch ein wenig Herz und ließ uns nicht hungern und auch nicht schlagen oder foltern, wie in manch einer der Horrorgeschichten, die mir zu Ohren gekommen waren. Er war Offizier der Venezianischen Flotte und seine Aufgabe bestand darin, wie ich im Laufe der sieben Jahre erfuhr, die ich als Sklave am Ruder saß, für die Sicherheit der Gewässer in den an die osmanischen Gewässer grenzenden Gebieten zu sorgen. Tatsächlich wurde dieses Kriegsschiff in all den Jahren kein einziges Mal in kriegerische Auseinandersetzungen verwickelt. Es waren außerdem zwölf weitere Marineoffiziere an Bord, die aber wie Seeleute gekleidet waren. Sie trugen auch kaum Waffen. Wir fuhren Patrouille. Der Kapitän hatte Auffälligkeiten an zuständiger Stelle im nächsten zu Venedig gehörenden Hafen oder in dem nächstgelegenen Hafen eines Venedig verpflichteten Gebiets, zu melden. Dieses Schiff war kleiner und leichter als herkömmliche Kriegsschiffe und hatte mehr als üblich Ruder und Rudersklaven. Außer bei Stürmen, bei denen wir uns in Häfen zur Sicherheit zurückzogen, waren wir ständig unterwegs. Während meiner Zeit als Rudersklave war ich mit einem Albaner an eine Ruderbank gekettet. Er war aus einer begüterten bosnischen Familie und ich konnte mich gut mit ihm auf Türkisch verständigen. Er war aus einem anderen Grund als ich auf diesem Schiff. Während eines Besuchs in Venedig war er in einen Streit verwickelt worden und bei der Auseinandersetzung sei es zu Tätlichkeiten gekommen. Das Gericht hatte ihn für schuldig befunden und zu einer Strafe von neun Jahren am Ruder verurteilt. Das war eine sehr harte Strafe. Nach aller Erfahrung konnte das niemand überleben. Über die Einzelheiten der Streitigkeit, haben wir kein Wort verloren, denn ich merkte, was da auch immer geschehen sein mag, dass er nicht bereute, was er getan hatte. Dieser junge Mann war von Hause aus vermögend und hatte bisher nie hart arbeiten müssen, vielmehr war seine Beschäftigung der Umgang mit Worten. Deshalb denke ich mir, dass es für ihn, ich nenne ihn mal Arif, nichts Schlimmeres geben konnte, als neun Jahre angekettet auf der Ruderbank sein Leben zu verbringen.

Für Arif war alles Wort. Mit einem Wort beginnt und mit einem Wort endet alles, hatte er einmal gesagt und er konnte dichten. Er dichtete in meiner Sprache, damit er mir seine Gedichte vortragen konnte und ich sie verstand. Die Gedichte waren wie Nahrung für meine wunde Seele, ohne die ich sicher nicht diese lange Zeit überstanden hätte. Durch seine Gedichte spürte ich meine Rabiye in Istanbul, als wäre sie bei mir in meinem Herzen. Nach etwa einem Jahr als Rudersklave waren in meinem Kopf auch einige Gedichte gereift und mein Inneres drängte mich dazu, meine eigenen Gedichte zu sprechen und immer weiter daran zu formen. Weil Arif das Venezianische beherrschte und sich unterhalten konnte gelang es ihm, den Kapitän für sich einzunehmen. Arif durfte einmal in der Woche beim Kapitän Gedichte vortragen und zur Unterhaltung beitragen, wenn der Kapitän speiste. Obwohl der Kapitän und dieser Arif aus völlig verschiedenen Welten stammen, sind sie doch seelenverwandt, dachte ich bei mir. Der Kapitän tat pflichtbewusst seine Arbeit und war, wenn es darauf ankam, nicht gerade eine weiche Seele. Andererseits blieb er für mich unergründlich rätselhaft. Er war wohl mit seinem Leben nicht ganz zufrieden, schaffte es aber, äußerlich nichts merken zu lassen. Möglicherweise wohnten zwei Seelen in seiner Brust. Heute weiß ich, dass in allen Menschen zwei Seelen wohnen, die agieren und reagieren je nach Situation. Oft weiß ein Mensch nicht einmal selbst, warum er das und dies so entschieden und getan hat. Menschen sind unberechenbar, denke ich mir. Gerade das macht sie zum Menschen. Wie hatte unser großer Dichter Mevlana Celaleddin Rumi gesagt, "Engel sollen immer Gutes tun; Menschen haben die Wahl, sich in ihren Handlungen jeweils zwischen Gutem und Bösem zu entscheiden." Haben sie wirklich die Wahl?

Aber lassen wir das beiseite, ich möchte meine Geschichte gar nicht in die Länge ziehen. Jahre vergingen. Vor etwa zweieinhalb Jahren, es war im Frühjahr und ich erinnere mich noch daran, das es kurz nach Mitternacht war, da wurde das Patrouillenschiff von drei flinken Korsarenschiffen umzingelt. Es gab ein Scharmützel, die Korsaren verlangten, was auf dem Schiff war und in dem Durcheinander konnte ich Arif befreien, weil ich zufällig gerade nicht angekettet war, denn ich hatte zuvor meine Notdurft verrichten müssen und war deshalb noch nicht wieder an meinen Platz zurückgekehrt und noch nicht angekettet worden. Wir sprangen beide über Bord. Allah sei Dank. Das Ufer war nicht weit. Wir schafften es ans Ufer zu schwimmen und warfen uns erschöpft hinter das nächste Gebüsch und schliefen sofort ein. Sehr lange haben wir nicht geschlafen, denn gegen Tagesanbruch wachten wir auf, weil wir froren. Wir suchten mit den Augen die Umgebung ab und entschieden uns, eine Bleibe zu suchen und gingen in Richtung eines kleinen Hains hinter den Feldern. Dort fanden wir eine Hütte, die allem Anschein nach einem Hirten gehören musste. In der Hütte war niemand; es war auch keine Herde da, sonst hätte sich der Hirtenhund bestimmt bemerkbar gemacht und gebellt. Die Hütte war innen trocken und wir konnten dort mit den vorhandenen Möglichkeiten am offenen Herd Feuer machen und unsere Bekleidung nach und nach trocknen. Arif kam diese Gegend nicht ganz fremd vor. Er war, wie er oft erzählt hatte, früher ständig unterwegs gewesen und hatte sich alles ansehen wollen und viel erleben wollen. Er habe sich bereits als Kind geschworen, nicht in einem Geschäft als Kaufmann auf Pfeffersäcken und zwischen gestapelten Waren zu sitzen und tagein tagaus auf Kundschaft zu warten wie sein Vater und alle Onkel und Vorfahren. Die ganze Sippe war in Süd-Bosnien in osmanischen Landen und handelte mit allen erdenklichen Handelsgütern aus dem Osten und aus dem Westen, einschließlich Nord- und Südeuropa. Er zählte alles auf. Regelrechte Schätze sind es gewesen und er hat keinen Wunsch danach verspürt. Das alles interessierte ihn überhaupt nicht. Offenbar hatten seine Verwandten ihm nicht übel, genommen, dass er sich nicht für den Handel erwärmt hatte. Wahrscheinlich konnten sie sich die Eskapaden des Arif ohne finanzielle Not leisten und ihn Erfahrung in der Welt sammeln lassen. Wer weiß? Arif sagte, wir sollten uns auf den Weg machen und uns bis zu seinem Elternhause durchschlagen. Wir lebten unterwegs von den Gaben der Bauern, gaben uns als Saison-Arbeiter aus, die im Norden nach Arbeit suchten und arbeiteten auch ohne wählerisch zu sein. Als Rudersklaven waren wir sowieso für jeden kenntlich an unserer Bekleidung und wer genau hinsah, sah die Spuren unserer einstigen Ketten, die noch nicht verschwunden waren. Aber wir waren wegen unseres langen Rudersklavenlebens muskulöse Kerle und kräftige Kerle werden in der Landwirtschaft immer gebraucht, sei es zum Stallausmisten oder zu anderer Arbeit. Auf unserem Weg von Arbeitsplatz zu Arbeitsplatz passierte nichts, was der Rede wert wäre. Einige Male schliefen wir mit Dirnen in Scheunen. Sie zogen in Kleingruppen von Dorf zu Dorf. Es war erregend, nach so langer Zeit eine Frau im Arm zu halten, auch wenn es nicht die eigene Frau war. Da wurde mir klar, dass ich durch die erschöpfende Arbeit als Rudersklave beinahe vergessen hatte, dass ich ein Mann war. Wir merkten, dass wir in den sechs Wochen, die wir auf dem Weg zu Arifs Eltern waren, wieder zu Menschen wurden und gereifte Männer waren. Die Eltern war wie erlöst nach einer Verzweiflung, denn sie hatten schon befürchtet, dass ihr Sohn tot sei. Ich wurde drei Tage lang bei Arifs Eltern bewirtet wir genossen ausgiebig die Körperpflege mit Massage und allen guten Dingen, die einem Besucher im Hamam gewährt werden. Wir ließen uns von einem Schneider neu einkleiden. Selbst Arifs Bekleidung, welche die Eltern all die Jahre aufgehoben hatten, passte dem Sohn nicht mehr. Als wir uns so erholt hatten und uns neu ausstaffiert wesentlich besser fühlten und wir mit frisiertem Haar und mit gestutztem Bart und anständigen Schuhen versehen einen vertrauenerweckenden Eindruck machten, gingen wir gemeinsam zur osmanischen Behörde. Arif trat als mein Zeuge auf und mit meinen eidlichen Angaben wurden mir neue Personenunterlagen ausgefertigt. Wieder zurückgekehrt in Arifs Elternhaus, stattete er mich mit einer Menge Goldmünzen aus, die ich nicht annehmen wollte. Er war beinahe gekränkt. Da habe ich sie angenommen. Er sagte, endlich kann ich einem Freunde helfen, wozu ist Wohlstand denn da. Selbst wenn ich ihn nicht persönlich erworben habe, es ist mein Anteil am Wohlstand unserer Sippe, über den ich persönlich verfügen darf, diese Summe wird keinem fehlen; ich könnte das Geld sicher gut gebrauchen. Die Goldmünzen waren in einem Ledergürtel, an dem mehrere flache Ledertaschen angenäht waren. Diesen Gürtel verbarg ich unter meiner lockeren Kleidung und behielt nur einen Beutel mit Handgeld für die Reise zur schnellen Verfügung in einer Tasche meines Kaftan. Ich nahm Abschied von Arif und seinen Eltern und bedankte mich bei allen. Es war mir schwer ums Herz, denn ich würde den Freund nicht mehr wiedersehen. Da gab ich ihm unsere Adresse in Istanbul. „Wer weiß, vielleicht tauchst du mal in Istanbul auf, dann sei mein Gast", sagte ich, während wir uns umarmten und uns gegenseitig den Rücken tätschelten. Arif sagte, er werde erst einmal eine Frau zum Heiraten suchen und eines Tages käme er uns bestimmt mit seiner Frau in Istanbul besuchen. „Darauf freue ich mich jetzt schon", sagte ich. Arif wollte mich noch bis nach Sarajewo begleiten, was ich jedoch ablehnte. Er solle seine Knochen doch noch etwas ausruhen, sagte ich ihm. Ich reiste mit einer Pferdekutsche nach Sarajevo und von dort mit einer Handelskarawane nach Istanbul. Die Reise war für mich ein Vergnügen ohne Beispiel, nach all den Strapazen, die ich bisher in meinem Leben hinter mir hatte. Ich sah neue Landschaften und lauschte den Leuten in den Karawansereien, in denen wir abends rasteten. Ich selbst redete fast nichts. Es machte mir eine unbeschreiblich Freude, Menschen zuzuhören, die sich überhaupt keine Gedanken darum machten, dass sie frei waren und scheinbar in den Tag hinein lebten. Ich war sehr dankbar, dass mein Leben nun diesen Verlauf genommen hatte und wünschte mir, dass dieses Glück bis ans Lebensende dauern möge. Noch war ich im Ungewissen, ob meine Frau nach so vielen Jahren überhaupt noch am Leben war, ob sie, wenn sie am Leben war, mir treu geblieben war, ob sie noch im selben Hause wohnte. Schließlich kann ein Erdbeben in all den Jahren gewesen sein und dann wäre das Haus vielleicht zerstört, möglicherweise wäre meine Frau unter den Trümmern begraben worden oder die Stadt konnte gebrannt haben, wie es oft in großen Städten passiert. Ach Allah, dir vertraue ich mich an. Gib mir Vertrauen und Ausdauer und lasse mich nicht auf dem letzten Stück des Weges vor Sorge verzweifeln. Schenke mir Zuversicht. Lasse mich meine Frau in Istanbul wiederfinden, betete ich und hoffte, dass sie nach so vielen Jahren noch auf mich wartet. Ich werde leben und dankbar einer Arbeit nachgehen und für uns sorgen, versprach ich.

Ich habe meine Frau tatsächlich wieder gefunden, Allah sei Dank. Unser Wiedersehen war so glücklich, dass wir glaubten, das Herz müsse vor Glück zerspringen. Uns fehlten die Worte.

Ich war so froh, wieder gesund nach Istanbul heimgekehrt zu sein, in diese Stadt, in der Rabiye all die Jahre hatte leben und als freier Mensch einem Beruf hatte nachgehen können. Rabiye hatte keine Schulden, sie hatte immer Miete bezahlt und sogar Goldmünzen beiseitegelegt und war sehr sparsam gewesen. Die Goldmünzen, die mir Arif mitgegeben hatte, mit denen er mich beschenkt hatte, könnten bis zu unserem Lebensende ausreichen rechneten wir aus, als wir sie zählten. Als erstes versteckten wir einen Teil der Goldmünzen in einem guten Versteck und einen Teil brachten wir zur Vertrauenskasse im Kapalitscharschi, wo gegen geringem Gebühr Istanbuler ihr Vermögen aufbewahren lassen. Das ist der sicherste Ort im ganzen Osmanischen Reich gegen Raub, Brand, Erdbeben und sonstigen Gefahren. Einen Teil des Gesparten spendete Rabiye einem Waisenhaus in Aksaray mit den Worten, das sei das Dankopfer, welches sie für den Fall meiner gesunden Heimkehr gelobt habe zu geben. Wir liebten uns, bis wir vor Freude miteinander verschmolzen.

Ich wollte, ja ich musste arbeiten, am besten eine schwere Arbeit, um meinen Körper wieder im Alltag zu spüren. Mit dem Meer hatte ich meinen Frieden geschlossen. Ich durfte es nun hier in Istanbul genügend um mich haben, aber ich würde nicht mehr in der Seefahrt arbeiten. Ich ging zur Sultan-Ahmet-Baustelle und meldete mich als einfache Hilfskraft an. Alles, was zu tragen, zu nageln, zu putzen war, machte ich mit. Ich hatte mich als freiwilliger Mitarbeiter gemeldet, als Dankesopfer für meine Befreiung. Weil ich ein freiwilliger Arbeiter war, konnte ich mir aussuchen, an welcher Stelle ich mir Arbeit zuteilen lassen sollte. Ich schaute mir an, wo was zu machen war. Wenn ich eine Arbeit glaubte, erledigen zu können, so ließ ich mich einteilen und machte mit. In der übrigen Zeit ging ich in die nahe gelegene Bibliothek der Ayasofya-Stiftung und las hauptsächlich Gedichtbücher von den alten Dichtern und von den neuesten Dichtern. So baute ich am Fundament meiner Dichtung weiter, mit dem ich auf dem venezianischen Schiff als Rudersklave begonnen hatte. Ansonsten, habe ich genug Zeit für meine Rabiye mit der ich oft und gern in Istanbul spazieren gehe oder wir fahren mit einem Kayik auf dem Bosporus irgendwohin. Als die Moschee fertig war, die jetzt schon Sultanahmet-Moschee heißt, genau wie der neue Stadtteil, beeilte man sich, damit die Einweihung alsbald erfolgen sollte, denn alle wussten, dass der Sultan, der so sehr an diesem Projekt hing, sonst die Eröffnungsfeier nicht mehr erleben würde, weil er schwer krank war und keine Aussichten auf Heilung bestanden. Es wurde ein überwältigendes Fest. Von Nah und Fern strömten die Gäste herbei, auch aus fernen Ländern reisten Gäste an. Es war ein Staatsereignis und die Einsegnung der Moschee erfüllte alle Gläubigen mit Stolz und Hingabe. Die Gesichter glühten vor Freude und die Menschenmenge musste in geordneten Gruppen warten, bis das Freitagsgebet mit dem Herrscher und allen staatstragenden Persönlichkeiten und Ehrengästen, die als Erste die Moschee zum Gebet nutzen durften, vorüber war. Auf dem großen Platz vor der Moschee hatten fliegende Händler allerlei anzubieten: Gebetsketten aus Lapislazuli, aus Meerschaum, aus Bernstein, aus Achat, aus Perlmut, aus Korallen, Ebenholz und Elfenbein, Türkisen und Aquamarin. Die Schmuckhändler hatten in den ersten eröffneten Läden des neuen Basars Geschmeide und andere Herrlichkeiten ausgestellt, welche von vielen Gästen aus fernen Ländern und von reichen Bürgern als wunderschöne Erinnerungsstücke und Geschenke für die Angehörigen erstanden wurden Die Hersteller von Glasperlen hatten wohl in den letzten Monaten alle Glasvorräte aufgebraucht und blaue Glasperlen hergestellt. Jedenfalls liefen Händler in Scharen zwischen den Wartenden umher und verkauften Amulette mit blauen Perlen, Anhängerchen für Kinder, kleine Ketten und Augensteine gegen den bösen Blick und Gebetsketten aus Glasperlen, Säckchen mit Perlstickereien und aus Perlen auf Draht gefädelte Untersetzer für heiße Töpfe. Kurzum, es gab für jeden Geldbeutel etwas, dass wert war als Andenken an dieses würdige Ereignis zu erinnern. Andere Händler boten hübsche Kopftücher an, die anlässlich dieses Festes mit besonderen Motiven geschmückt waren. Zahlreiche Stände sorgten für Erfrischungen und zur Besänftigung des Hungers derjenigen, die sich in die Warteschlange eingereiht hatten.

Nachdem die Einweihung vorüber war und sich die Moschee geleert hatte, wurden die Gebetsteppiche in Bahne so umgeschlagen, dass die Bewunderer, ohne die Teppiche zu beschmutzen, auf festgelegten Wegen durch die Moschee geführt werden konnten. Die Türen wurden für das Volk geöffnet. Der Besucherstrom wogte geordnet in Richtung der Haupttüre und würde an einer anderen Türe hinaus strömen. Anders wäre niemand mit dem Ansturm der begeisterten Menge fertig geworden. Um die Besucher, die auf dem Platz warten mussten, zu unterhalten, wurde von der Janitscharen-Kapelle festliche Musik gespielt. Lieder wurden vorgetragen. Die Zuhörer waren frohgemut und spendeten begeistert Beifall. Irgendwo in der Menge würde auch Rabiye mit anderen Frauen eine Gruppe bilden und durch die Moschee geleitet werden, das wusste ich, aber wo ich sie auf diesem von dichten Menschenansammlungen überfüllten Platz hätte finden können, wusste ich nicht. An weitere Gebete in der neuen Moschee war am ersten Tage natürlich nicht mehr zu denken. Ich aber hatte das Glück gehabt, mit den ersten Teilnehmern beim Gebet zur Einweihung dabei sein zu dürfen. Weil ich als Freiwilliger an der Moschee mitgewirkt hatte, hatte ich die Erlaubnis bekommen und stand ganz hinten in der Reihe der Betenden. Da war mir, als ich von blauem Glanz der bemalten Kacheln umgeben war und über mir sich diese riesige Kuppel wölbte, deren Mitte von einer blaugoldenen Inschrift wunderschön umschrieben ist, als stehe ich in einer blauen Perle. Ich hätte weinen mögen vor Glück und konnte doch niemanden an meinem übervollen Herzen teilhaben lassen. Diese blaue Perle voller Menschen und die Stimmen der Rezitatoren der Koranverse, wie schön diese blaue Perle klingt! Das Werk ist gelungen. Der Sultan hat erlebt, dass sein Wunsch in Erfüllung gegangen ist, schoss es mir durch den Kopf. Ich erschrak, wie dicht Freude und Trauer, die wir bereits ahnten, beieinander sind. Ohne es zu merken, begann ich zu dichten. Ich erschrak erneut. Darf ich das? Darf ich beten und dichten? Oder ist das Gebet eines Dichters sein Gedicht?

Meine freiwillige Arbeit an der Moschee war beendet. Ich wagte mich mehr und mehr daran, mich mit meiner Dichtung zu beschäftigen und ging morgens in das neue Viertel und jonglierte mit Worten, schob sie in Gedanken an verschiedene Plätze innerhalb meines Gedichtes. Abends schrieb ich die gelungenen Formen auf, die sich tagsüber in meinem Kopf angesammelt hatten. Ich las Rabiye meine Gedichte vor. Auch andere Leute, die uns kannten, fanden an meinen Gedichten Gefallen. Meine Begegnung vor der Ayasofya Moschee mit dem Lehrer des inzwischen verstorbenen Sultans freute mich sehr. Lala Mustafa Efendi hörte mit zärtlicher Hingabe und voller Aufmerksamkeit meine Gedichte an. Zuletzt hat er mich gefragt, ob ich bereit wäre, in der Medresse der Ayasofya und in der Medresse von Fatih meine Gedichte vorzutragen. Oh, wie hüpfte mir das Herz da vor Freude. Ich musste erst einmal ein wenig warten, damit meine Stimme sich fangen und ich ruhig antworten konnte. Mochte Lala Mustafa Efendi doch glauben, ich müsse mir das reiflich überlegen. Ich atmete dann frei und sagte freundlich und mit ruhiger Stimme: „ Ja, ich werde gern meine Gedichte lesen." Lala Mustafa Efendi wird mich bald zu sich nach Hause einladen, sagte er. Wir verabschiedeten uns sehr herzlich mit einem Händedruck und verneigten uns. - Nun wird sicher für mich ein neues Leben anfangen, das mich in dieser Stadt noch mehr beglücken wird und ich werde diese Freude mit meiner Rabiye teilen.

FERIHAN
Nun habe ich habe alle Personen erzählen lassen. Solch ein Buch ist meines Wissens bisher nicht im Osmanischen Reich von einer Frau geschrieben worden. Bei uns wird viel erzählt, wir lieben alles, was unterhält, ganz gleich ob es ein Märchen, ein Reisebericht, ein Gedicht oder ein Erlebnis ist. Wir sind aufgeschlossen und interessiert an den Wundern, die unsere Phantasie entfachen. Es wird hier viel erzählt aber wenig geschrieben, weil es wenig Menschen gibt, die lesen und schreiben können. Es wird erzählt, wenn Menschen Teppiche knüpfen und eine monotone Arbeit verrichten müssen, um sie von der monotonen Arbeit abzulenken. Es wird erzählt, um im Familienkreis die Runde zu erheitern oder um kleinen Naseweisen eine versteckte Lehre zu erteilen. Staunenden Kaffeehausbesuchern werden Bären aufgebunden und von Matrosen wird Seemannsgarn gesponnen. Mit der Wahrheit umzugehen gibt es viele Möglichkeiten, Mal muss der Zuhörende die Wahrheit selbst finden, mal liegt sie im Wortwitz verpackt und dann wieder ist sie so verschüttet, dass keiner glaubt, die Wahrheit je herauszufinden. Es wäre natürlich besser, wenn mehr Menschen schreiben und lesen könnten. Dann wäre es auch für unsere Menschen leichter, Nachrichten auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen, weil dann unterschiedliche Quellen zur Verfügung stünden und noch besser wäre es, wenn möglichst viele Menschen mehrere Sprachen beherrschen würden und jeder in der Lage wäre, die Sichtweise des jeweils anderen dadurch besser zu verstehen und niemand seine Entscheidungen auf Vermutungen stützen müsste. Gesagt ist gesagt, geschrieben ist geschrieben. Ob und wann meine Schriften gelesen werden, weiß nur die Zeit und unser aller Schöpfer. Möge über uns allen seine Gnade und Liebe walten.

Amen.


E n d e

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Abbas Güçlü, Adil Karaağaç, Ali Ağaoğlu, <Ali Kibar, Adnan Nas, Adnan Polat, Adnan Şenses, Ahmet Başar, Ahmet Esen, Alber Bilen ,Ahmet Cemal Kura, Ali Abalıoğlu, Ali Naci Karacan, Ali Sabancı, Ali Koç, Ali Saydam, Ali Talip Özdemir, Ali Üstay, Arman Manukyan, Arzuhan Yalçındağ, Asaf Güneri, Atila Şenol, Attila Özdemiroğlu, Avni Çelik, Ayduk Koray, Aydın Ayaydın, Aydın Boysan, Ayhan Bermek, AyşeKulin, Ayten Gökçer, Başaran Ulusoy, BedrettinDalan, Bedri Baykam, Berhan Şimşek, BetülMardin, Bülend Özaydınlı, Bülent Akarcalı, Bülent Eczacıbaşı, Bülent Şenver, CağvitÇağlar, Can Ataklı, Can Dikmen, Can Has, Can Kıraç, Canan Edipoğlu, Celalettin Vardarsuyu, Cengiz Kaptanoğlu, Cevdetİnci, Çoşkun Ural, Cüneyt Asan, Cünety Ülsever, Çağlayan Arkan, Çetin Gezgincan, DenizAdanalı, Deniz Kurtsan, Didem Demirkent, Dilek Sabancı, Dr. Oktay Duran, Ege Cansel, Em. Org. Çevik Bir, Emre Berkin, Engin Akçakoca, Enver Ören, Erdal Aksoy, Erdoğan Demirören, ErhanKurdoğlu, Erkan Mumcu, Erkut Yücaoğlu, Ergun Özakat, Ergun Özen, Erol Üçer, Ersin Arıoğlu, Ersin Faralyalı, Ersin Özince, Ethem Sancak, Fatih Altaylı, Fatih Terim, Ferit Şahenk, Ferruh Tanay,Feyhan Kalpaklıoğlu, Feyyaz Berker, Fuat Miras, Fuat Süren, Füsun Önal, Göksel Kortay, Güler Sabancı, Güngör Kaymak, Hakan Ateş, Halit Soydan, Halit Kıvanç, Haluk Okutur, Haluk Şahin, Hamdi Akın, Hasan Güleşçi, HayrettinKaraca, Hazım Kantarcı, Hilmi Özkök, Hüsamettin Kavi, Hüseyin Kıvrıkoğlu, Hüsnü Özyeğin, Işın Çelebi, İbrahim Arıkan, İbrahim Betil, İbrahim Bodur, İbrahim Cevahir, İbrahim Kefeli, İdris Yamantürk, İhsan Kalkavan, İshak Alaton, İsmet Acar, İzzet Garih, İzzet Günay, İzzet Özilhan, JakKamhi, Kazım Taşkent, Kemal Köprülü, Kemal Şahin, Leyla Alaton Günyeli, LeylaUmar, Lucien Arkas, Mahfi Eğilmez, MehmetAli Birand, Mehmet Ali Yalçındağ, Mehmet Başer, Mehmet Günyeli, Mehmet Huntürk, Mehmet Keçeciler, Mehmet Kutman, Mehmet Şuhubi, Melih Aşık, Meltem Kurtsan, Mesut Erez, Metin Kalkavan, Metin Kaşo, Muharrem Kayhan, Muhtar Kent, Murat Akdoğan, Murat Dedeman, MuratVargı, Mustafa Koç, Mustafa Özyürek, Mustafa Sarıgül, Mustafa Süzer, Mümtaz Soysal, Nafi Güral, Nail Keçili, Nasuh Mahruki, Nebil Özgentürk, Neşe Erberk, Nevval Sevindi, Nezih Demirkent, Nihat Boytüzün, Nihat Gökyiğit, Nihat Sırdar, Niyazi Önen, Nur Ger, Nurettin Çarmıklı, Nuri Çolakoğlu, Nüzhet Kandemir, Oğuz Gürsel, Oktay Duran, Oktay Ekşi, Oktay Varlıer, Osman Birsel, Osman Şevket Çarmıklı, Ozan Diren, Özen Göksel, ÖzdemirErdoğan, Özhan Erem, Pervin Kaşo, R.BülentTarhan, Raffi Portakal, Rahmi Koç, Rauf Denktaş, Refik Baydur, Rıfat Hisarcıklıoğlu, SakıpSabancı, Samsa Karamehmet, Savaş Ünal, SedatAloğlu, Sefa Sirmen, Selçuk Alagöz, SelçukYaşar, Selim Seval, Semih Saygıner, SerdarBilgili, Sevan Bıçakçı, Sevgi Gönül, Sezen Cumhur Önal, SinanAygün, Suna Kıraç, Süha Derbent, Süleyman Demirel, ŞadanKalkavan, Şadi Gücüm, Şahin Tulga, Şakir Eczacıbaşı, Şarık Tara, Şerif Kaynar, ŞevketSabancı, Tan Sağtürk, Taner Ayhan, Tanıl Küçük, Tanju Argun, Tansu Yeğen, TavacıRecep Usta, Tayfun Okter, Tevfik Altınok, Tezcan Yaramancı, Tinaz Titiz, Tuna Beklevic, Tuncay Özilhan, Türkan Saylan, Uğur Dündar, Uluç Gürkan, Umur Talu, Ümit Tokçan, Üzeyir Garih, Vehbi Koç, Vitali Hakko, Vural Öger, Yaşar Aşçıoğlu, Yaşar Nuri Öztürk, Yılmaz Ulusoy, Yusuf Köse, Zafer Çağlayan, Zeynel AbidinErdem

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